Bankgeheimnisse
helfen, aber das tut es nicht. Laß uns gehen.« Ihre Kehle brannte. Es tat weh, wenn sie schluckte. Auf dem Weg zum Ausgang spürte sie Ginas Blicke, und sie wußte, daß die Italienerin sie ebenso ansah wie jeden Tag in den vergangenen Wochen, mit einer Mischung aus Sorge, Mitleid und Sympathie. Sie drehte sich halb zu ihr um. Ihre Augen waren hinter der spiegelnden Brille nicht zu sehen, aber aus ihrer Stimme klang Resignation. »Tut mir leid, ich verderbe dir alles. Dein Urlaub ist fast vorbei, und was hast du davon gehabt? Gar nichts. Die ganze Zeit hast du dich mit mir herumgeplagt.«
Gina schüttelte unwillig den Kopf. »Davon will ich nichts hören. Ich habe dich gem. Ich leide mit dir. Du bist wie eine Schwester für mich.« Ihre Stimme war melodisch und bekam durch den italienischen Akzent einen zusätzlichen, exotischen Reiz. In den wenigen Wochen hatte sie ihre Deutschkenntnisse entscheidend verbessert. Die englischen und italienischen Einsprengsel waren zusehends seltener geworden. Sie schien über dasselbe natürliche Sprachtalent wie Fabio zu verfügen. »Ich weiß, wie schwer es für dich ist, doch das wird sich ändern. Im Augenblick sieht es für dich vielleicht nicht so aus, aber du wirst darüber hinwegkommen. In der ersten Zeit gibt es nicht viel, was dir hilft. Du wirst leiden und leiden, monatelang, vielleicht Jahre. Aber es wird irgendwann weniger werden, und dann kommen die ersten Tage, an denen du nicht mehr schon beim Aufstehen daran denkst.« Sie folgte Johanna über den gepflasterten Vorplatz der Kirche. Der Schnee der letzten Tage war an den Rand des Platzes und an die Stämme vereinzelter Bäume geschoben worden, wo er zu aschefarbenen Klumpen geschmolzen war.
»Bei mir hat es nach dem Tod meines Vaters lange gedauert, bis ich wieder lachen konnte. Aber irgendwann war es soweit. Fabio hat mir damals sehr geholfen.«
Johanna ließ den sanften Redefluß der Italienerin an sich vorbeiplätschern. Sie erinnerte sich an die weiche, tröstliche Frauenstimme, die in der ersten Woche nach dem Unfall stundenlang auf sie eingeredet hatte. »Du hast dich damals um ihn gekümmert, als das mit eurem Vater passiert war, oder?«
Gina nickte. Sie blieb an der Beifahrertür eines in der Nähe geparkten Wagens stehen, einem marineblauen BMW, den sie vor einigen Tagen bei einem Autoverleih gemietet hatte. »Ich habe mir Mühe gegeben. Ich wollte, daß ein guter Mann aus ihm wird.«
»Du hättest es nicht besser machen können«, sagte Johanna schlicht. »Du hast Fabio zu einem guten Mann erzogen.«
Gina wußte, daß Johanna an ihren eigenen Bruder dachte, an die verpaßten Chancen und die verlorenen Jahre. Sie unterdrückte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Es würde Johanna nicht helfen, wenn sie ihr versicherte, daß ihre Ausgangssituation eine ganz andere gewesen sei.
Sie stiegen ein, und Johanna rückte vor dem Innenspiegel die Sonnenbrille gerade und zupfte an ihren Haaren herum. »Dein Haarschnitt hat nicht viel gebracht, da kann man nichts machen. Ich hätte gedacht, daß ich wie ein Junge aussehe. Aber ich sehe nur wie ein verhungertes kleines Mädchen aus. Es ist nicht viel besser als vorher.«
Gina sah sie besorgt an. »Tut es dir leid?«
»Ach, es spielt keine Rolle. Sie wachsen wieder. Und die Farbe läßt sich auswaschen.« Sie steuerte den Wagen durch den dichten Stadtverkehr und bog auf eine der Ausfallstraßen in südlicher Richtung ein.
»Fabio wird es nicht gefallen.«
»Was? Daß die Haare ab sind?« Johanna lachte kurz. »Um was wetten wir, daß er sich ohne ein Wort damit abfinden wird?«
»Er wird schimpfen«, prophezeite Gina mit schwachem Lächeln. »Wir wetten um ein Abendessen. Gewinne ich, kochst du. Verliere ich, kochst du auch.«
Gina kicherte. »Kochst du so schlecht?«
»Schlechter als schlecht. Ich habe es im Heim gelernt, wir hatten da Kochunterricht, aber die Köchin war miserabel, genauso miserabel wie der Fraß, den sie uns Tag für Tag vorsetzte.«
Gina wurde ernst. »Es muß eine sehr schlimme Zeit für dich gewesen sein.«
»Hm.«
»Warum redest du nicht darüber?«
»Wozu?« gab Johanna einsilbig zurück.
»Es wäre besser für dich, wenn du öfter darüber sprichst, wie schlimm es war.«
Johanna blickte stumm auf ihre Hände am Lenkrad. »Ja, es war schlimm«, sagte sie schließlich bedächtig. »Aber für meinen Bruder war es schlimmer. Er war ja fast noch ein Kleinkind. Ich hatte wenigstens die Schule. Sie war mein Schutzschild, meine
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