Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
daß ihr Vater sie völlig mittellos zurückgelassen hatte. Das war Sache des Vormundes, und Oliver Greenburg dachte nicht daran, sich hier einzumischen.
„Wenn Sie Fragen zu dieser Angelegenheit haben, Miss Bradford, so wenden Sie sich am besten an Ihren Vormund. Er wird Ihnen über alles berichten.“
Royal verließ die Kanzlei mit dem Gefühl, als hätte man ihr einen Schlag versetzt. Wenn kein Vermögen mehr geblieben war, warum hatte Damon es mit keinem Wort erwähnt?
Zurück in ihrem Zimmer, zählte sie die verbliebene Barschaft. Es waren nicht einmal zwölf Pfund. Das würde kaum ausreichen, um die Rechnung des Metzgers zu bezahlen. Was sollte sie bloß tun?
*
Obgleich Damon Routhland alle ihm zu Gebote stehenden Mittel nutzte, gelang es ihm nicht, Lord Preston Seaton irgendwo zu finden. Entweder hatte der Engländer unter falschem Namen gelebt, oder aber er war weiter hinauf in den Norden gebracht worden. In beiden Fällen würde es so gut wie unmöglich sein, seinen Aufenthaltsort zu erfahren.
Allerdings gab es noch eine letzte, wenn auch gefährliche Möglichkeit. Um sie zu erkunden, mußte Damon Routhland sich heimlich durch die feindlichen Linien stehlen und einen Mann aufsuchen, den weder Skrupel noch echte Heimatliebe trieben. In Georgia oder einem der beiden Staaten Carolina hauste er in einem Camp mit einer Bande von gewissenlosen Halsabschneidern und überfiel wahllos Freund und Feind. Dennoch gaben die Kerle vor, die Sache der Freiheit zu unterstützen, und gehorchten blind ihrem Anführer, dem Banditen Vincent Murdock.
Bisher hatten sie an den unterschiedlichsten Orten zugeschlagen und sich danach mit der Beute blitzschnell wieder in die unwegsamen Sümpfe zurückgezogen, ohne daß es jemandem gelungen wäre, die Marodeure zu stellen. Murdock war wegen seiner Grausamkeit berüchtigt. Wenn Lord Preston Seaton diesem Kerl in die mörderischen Hände gefallen war, dann mochte Gott ihm gnädig sein!
Damon Routhland steckte ein Messer in den Schaft des kniehohen Stiefels. Da der Weg durch die von den Briten besetzten Gebiete führte, hatte er die Uniform mit den unauffälligen Hosen aus Büffelleder und einem einfachen Hemd vertauscht. Natürlich war er sich der Gefahr bewußt, die er dabei lief. Wenn die Engländer ihn in Zivilkleidern ergriffen, würden sie ihn gnadenlos als Spion erschießen. Doch dieses Wagnis mußte er eingehen. Und bevor er zu seiner ungewissen Mission, Murdock ausfindig zu machen, aufbrach, wollte Routhland sich vergewissern, daß Royal unter den wachsamen Augen des Ehepaares Beemish in Sicherheit war. Wegen der zahllosen britischen Soldaten, die sich in der Gegend herumtrieben, mußte er Royal im Schutze der Dunkelheit aufsuchen.
Inzwischen war die Haushälterin damit beschäftigt, den kupfernen Teekessel zu scheuern, und Royal hatte seit längerem über den Vormund nachgesonnen. Jetzt wandte sie sich an Alba Beemish.
„Wie hält Mr. Routhland es während seiner Abwesenheit mit unseren Haushaltsausgaben?“
„Wir kaufen nur in bestimmten Geschäften, und die Rechnungen gehen direkt an Mr. Bartholomew.“
„Alba, da stimmt etwas nicht. Ich habe gestern Mr. Greenburg, unserem Advokaten, einen Besuch abgestattet, weil ich Geld brauchte. Er behauptete, es sei keines da. Ich verstehe nicht, was mit dem ganzen Vermögen meines Vaters geschehen ist.“
Alba gab vor, nur Augen für den blitzblanken Teekessel zu haben, und putzte wie wild drauflos. Endlich sagte sie wegwerfend: „Ich weiß natürlich nichts über diese Dinge, Miss Royal, aber dieser Advokat ist wahrscheinlich nicht die richtige Adresse. Sie sollten besser Mr. Bartholomew fragen oder später einmal Mr. Routhland selbst.“
Royal holte tief Atem. „Wenn wirklich nichts mehr übriggeblieben ist, verstehe ich nicht, warum Mr. Routhland mich darüber im unklaren gelassen hat.“
„Miss Royal, Sie glauben doch nicht etwa gar, Mr. Routhland hätte in Ihrer Angelegenheit fahrlässig gehandelt?“ fragte Alba entrüstet. Sie fühlte sich bemüßigt, mit allen Mitteln den Gentleman zu verteidigen, den so hoch zu achten sie inzwischen längst gelernt hatte.
„Nein“, wehrte Royal ab, „natürlich nicht. Das käme mir auch nicht in den Sinn. Aber es muß wohl etwas mit diesem Krieg zu tun haben, nicht wahr?“
Alba nahm sich nun mit Feuereifer das Silber zum Blankpolieren vor und dachte, Miss Royal Bradford müßte Gott eigentlich auf den Knien für einen Mann wie Damon Routhland als Vormund
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