Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Sommerabend, der für mich eine Wende bedeuten sollte, durch die dunkle, tückische Barceloneser Nacht gegangen war, wollte es mir nicht gelingen, Claras Erzählung über das Verschwinden ihres Vaters aus den Gedanken zu verscheuchen. In meiner Welt war der Tod eine anonyme, unverständliche Hand, ein Hausierer, der Mütter, Bettler oder neunzigjährige Nachbarn mit sich nahm, als wäre es eine Lotterie der Hölle. Die Vorstellung, der Tod könnte neben mir einhergehen, mit einem Menschengesicht und haßvergiftetem Herzen, in Uniform oder Mantel, er könnte vor dem Kino Schlange stehen, in Kneipen lachen oder vormittags mit seinen Kindern im Ciudadela-Park Spazierengehen, um nachmittags jemanden in den Verliesen des Kastells des Montjuïc oder in einem namenlosen Massengrab ohne Zeremoniell verschwinden zu lassen, das wollte mir nicht in den Kopf. Als ich immer weiter darüber nachdachte, kam ich auf den Gedanken, vielleicht sei diese Welt, die ich für selbstverständlich nahm, nichts weiter als eine Kulisse aus Pappmaché. Wie die Züge der Renfe, so kam in diesen gestohlenen Jahren das Ende der Kindheit dann, wenn es eben kam.
Wir beugten uns über diese Brühe aus Resten mit Brot, in das aufdringliche Gebrabbel der Rundfunkserien gehüllt, das überall durch die offenen Fenster hereindrang.
»Wie ist es dir denn nun ergangen mit Don Gustavo?« »Ich habe seine Nichte kennengelernt, Clara.«
»Die Blinde? Die soll ja eine Schönheit sein.«
»Ich weiß nicht. Darauf achte ich nicht.«
»Ist auch besser für dich.«
»Ich hab ihnen gesagt, vielleicht komme ich morgen nach der Schule zu ihnen, um der Armen etwas vorzulesen, sie ist ja sehr allein. Wenn ich darf.«
Mein Vater musterte mich verstohlen, als fragte er sich, ob er vorzeitig altere oder ich zu schnell groß werde. Ich beschloß, das Thema zu wechseln, und das einzige, das ich finden konnte, war das, das mich im Innersten aufwühlte.
»Im Krieg – stimmt es, daß man da Leute ins Kastell des Montjuïc gebracht hat, die man dann nie mehr sah?«
In aller Ruhe führte mein Vater den Löffel zum Mund und schaute mich lange an. Das kurze Lächeln verschwand von seinen Lippen.
»Wer hat dir das gesagt? Barceló?«
»Nein. Tomás Aguilar, der erzählt ab und zu so Geschichten in der Schule.«
Mein Vater nickte langsam.
»In Zeiten des Krieges geschieht vieles, was schwer zu erklären ist, Daniel. Oft weiß auch ich nicht, was es wirklich zu bedeuten hat. Manchmal läßt man die Dinge besser, wie sie sind.«
Er seufzte und schlürfte ohne Appetit seine Suppe. Wortlos beobachtete ich ihn.
»Vor ihrem Tod hat mir deine Mutter das Versprechen abgenommen, mit dir nie über den Krieg zu reden und nicht zuzulassen, daß du dich an irgend etwas erinnerst, was geschehen ist.«
Ich wußte nicht, was antworten. Mein Vater kniff die Augen zusammen, als suchte er etwas in der Luft. Blicke oder ein Schweigen – oder vielleicht meine Mutter, damit sie seine Worte bekräftigte.
»Manchmal denke ich, es war ein Fehler, auf sie zu hören. Ich weiß es nicht.«
»Ist ja egal, Papa …«
»Nein, es ist nicht egal, Daniel. Nach einem Krieg ist nichts egal. Und ja – es stimmt, daß viele Leute in dieses Kastell hineingegangen und nie wieder herausgekommen sind.«
Rasch begegneten sich unsere Blicke. Kurz danach stand mein Vater auf und zog sich in sein Zimmer zurück. Ich räumte die Teller ab und stellte sie in die kleine Marmorspüle in der Küche, um sie abzuwaschen. Wieder im Wohnzimmer, knipste ich das Licht aus und setzte mich in den alten Sessel meines Vaters. Der Luftzug von der Straße regte sich in den Vorhängen. Ich verspürte keine Müdigkeit und mochte sie auch nicht anlocken. Ich ging zum Balkon und lehnte mich hinaus, bis ich den dunstigen Schein sah, den die Straßenlaternen in der Puerta del Ángel aussandten. Die Gestalt hob sich von einem Stück Schatten ab, das reglos auf dem Straßenpflaster lag. Das schwache rötliche Glimmen einer Zigarettenglut spiegelte sich in ihren Augen. Sie war dunkel gekleidet, eine Hand steckte tief in der Jackentasche, die andere führte die Zigarette, die eine blaue Rauchwebe um ihr Profil spann. Sie beobachtete mich schweigend, das Gesicht verborgen. Nachlässig rauchend, blieb sie fast eine Minute dort stehen, den Blick fest auf meinen geheftet. Dann, als es von der Kathedrale Mitternacht schlug, nickte die Gestalt einen leichten Gruß, hinter dem ich ein Lächeln erahnte. Ich hätte den Gruß erwidern wollen, aber ich war
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