Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
wenn sie allein auf der Straße war, und mit brüchiger Stimme zu ihr sprach. Der geheimnisvolle Mann, der nie seinen Namen nannte, fragte sie über Don Gustavo und sogar über mich aus. Einmal hatte er ihren Hals gestreichelt. Mich quälten diese Geschichten entsetzlich. Ein andermal beteuerte Clara, sie habe den mutmaßlichen Fremden gebeten, sie mit den Händen sein Gesicht lesen zu lassen. Er habe geschwiegen, was sie als Zustimmung interpretiert habe. Als sie die Hände zu seinem Gesicht emporgehoben habe, habe er sie brüsk zurückgehalten, aber da hatte sie schon etwas Ledernes berührt.
»Als hätte er eine Ledermaske getragen«, sagte sie.
»Das saugst du dir aus den Fingern, Clara.«
Clara schwor bei allen Heiligen, es stimme, und ich ergab mich, gequält vom Bild dieses Unbekannten, dem es Spaß bereitete, diesen Schwanenhals zu streicheln und weiß Gott was noch, während mir nur die Sehnsucht danach gestattet war. Hätte ich mich damit aufgehalten nachzudenken, so wäre mir aufgegangen, daß meine Verehrung für Clara eine einzige Quelle des Leidens war. Vielleicht betete ich sie darum noch mehr an, aus dieser ewigen Torheit heraus, denen nachzustellen, die uns weh tun. Im Laufe dieses Sommers fürchtete ich nur den Tag, an dem der Schulunterricht wieder begänne und ich nicht mehr den ganzen Tag zur Verfügung hätte, um ihn mit Clara zu verbringen.
Da mich die Bernarda, hinter deren strenger Miene sich der Charakter einer zärtlichen Mutter verbarg, so oft zu sehen bekam, gewann sie mich am Ende lieb und adoptierte mich auf ihre Art und Weise.
»Man sieht, daß dieser Junge keine Mutter hat, glauben Sie mir«, pflegte sie zu Barceló zu sagen. »Mir tut er richtig leid, das arme Bürschchen.«
Die Bernarda war bei Kriegsende nach Barcelona gekommen, auf der Flucht vor der Armut und einem Vater, der sie an seinen guten Tagen nur verprügelte und Miststück nannte, an den schlechten aber, wenn er betrunken war, in den Schweinekoben sperrte, wo er sie befummelte. Als sie begann, sich mit Geschrei zu wehren, ließ er sie ziehen – eine frömmlerische Idiotin wie ihre Mutter. Barceló hatte sie zufällig kennengelernt, als sie an einem Gemüsestand im Borne-Markt arbeitete; einer Eingebung folgend, hatte er ihr eine Stelle in seinem Haushalt angeboten.
»Unsere Beziehung wird sein wie in Pygmalion «, verkündete er. »Sie werden meine Eliza sein und ich Ihr Professor Higgins.«
Die Bernarda, die ihr Lektürebedürfnis mit dem Sonntagsblatt stillte, schaute ihn mißtrauisch an.
»Hören Sie, unsereiner mag ja arm und unwissend sein, aber für Schweinereien sind wir nicht zu haben.«
Barcelós Bemühungen hatten der Bernarda schließlich Manieren und die Ausdrucksweise einer Provinzminna beigebracht. Sie war achtundzwanzig, aber mir kam es immer vor, als wäre sie zehn Jahre älter, und sei es nur in den Augen. Sie war eine fleißige Messegängerin und verehrte die Jungfrau von Lourdes abgöttisch. Täglich hörte sie in der Kirche Santa María del Mar den Acht-UhrGottesdienst, und dreimal pro Woche ging sie beichten. Barceló, der sich als Agnostiker bezeichnete, war der Meinung, es sei mathematisch unmöglich, daß das Dienstmädchen genügend sündigen könne, um einen solchen Beichtrhythmus zu rechtfertigen.
»Du bist doch ein herzensguter Mensch, Bernarda«, sagte er ärgerlich. »Leute, die überall Sünden sehen, haben eine kranke Seele und, wenn ich noch deutlicher werden soll, kranke Därme. Der Grundzustand des spanischen Frömmlers ist chronische Verstopfung.«
Wenn sie diese blasphemischen Reden hörte, schlug die Bernarda fünffach das Kreuz. Spätabends sprach sie dann ein Extragebet für die befleckte Seele von Señor Barceló, der zwar ein gutes Herz hatte, dem aber bei dem vielen Lesen das Hirn verdorrt war wie Sancho Pansa. Ab und zu, ganz selten, fand sie einen Freund, der sie schlug, ihr den kargen Spargroschen abknöpfte und sie über kurz oder lang sitzenließ. Jedesmal, wenn sich eine solche Krise ergab, schloß sie sich in ihrem Zimmer im hinteren Teil der Wohnung ein, weinte tagelang und schwor, sich mit Rattengift umzubringen oder eine Flasche Lauge zu trinken. Wenn Barcelós sämtliche Überredungskünste nichts fruchteten, erschrak er wirklich und rief einen Schlosser, um die Zimmertür öffnen zu lassen, und seinen Hausarzt, damit er der Bernarda ein Beruhigungsmittel verabreichte, das ein Pferd eingeschläfert hätte. Wenn die Arme zwei Tage später aufwachte, brachte ihr
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