Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
wie gelähmt. Die Gestalt wandte sich ab, und ich sah sie mit leichtem Hinken davongehen. An jedem andern Abend hätte ich kaum auf einen solchen Fremden geachtet, aber sowie ich ihn im Dunst verschwinden sah, spürte ich kalten Schweiß auf der Stirn und hatte Atemnot. In Der Schatten des Windes hatte ich eine Szene gelesen, die der eben erlebten haargenau glich. Im Roman trat der Protagonist Mitternacht für Mitternacht auf den Balkon hinaus und stellte fest, daß ihn aus dem Schatten heraus ein Fremder beobachtete und dabei nachlässig rauchte. Immer blieb sein Gesicht in der Dunkelheit verborgen, und nur seine glühenden Augen deuteten sich in der Nacht an. Die rechte Hand tief in der Tasche eines schwarzen Jacketts vergraben, blieb der Fremde dort stehen, um dann davonzuhinken. In der Szene, die ich eben erlebt hatte, war dieser Fremde vielleicht irgendein Nachtschwärmer, eine gesichts- und belanglose Gestalt. In Carax’ Roman war der Fremde der Teufel.
6
Ein tiefer Vergessensschlaf und die Aussicht, an diesem Abend Clara wiederzusehen, brachten mich zur Überzeugung, daß die Vision nichts weiter zu bedeuten hatte. Vielleicht war dieses unerwartete Aufkeimen einer fieberhaften Fantasie nur ein Vorzeichen des herbeigesehnten Wachstumsschubs, der aus mir, wie mir sämtliche Nachbarinnen unseres Hauses verhießen, einen wenn nicht ordentlichen, so doch gutaussehenden Mann machen würde. Punkt sieben Uhr erschien ich in meiner festlichsten Gewandung und umduftet vom Varón-DandyKölnisch meines Vaters, in Don Gustavo Barcelós Wohnung, fest entschlossen, mich als Hausvorleser und Westentaschengecken einzuführen. Der Buchhändler und seine Nichte teilten sich eine Prachtwohnung auf der Plaza Real. Ein uniformiertes Dienstmädchen mit Haube und leicht legionärshaftem Ausdruck öffnete mir die Tür und machte dabei einen theatralischen Knicks.
»Sie sind bestimmt der junge Herr Daniel«, sagte sie. »Ich bin die Bernarda, um Ihnen zu dienen.«
Die Bernarda befleißigte sich eines zeremoniösen Tons mit baumstarkem Cáceres-Akzent. Mit Gepränge und Würde führte sie mich durch das Heim der Barcelós. Die Wohnung, die im ersten Stock lag, nahm die Fläche des ganzen Gebäudes ein und beschrieb einen Kreis von Galerien, Salons und Gängen, der mir, da ich an unsere bescheidene Familienwohnung in der Calle Santa Ana gewöhnt war, wie eine verkleinerte Ausgabe des Escorials vorkam. Offensichtlich sammelte Don Gustavo außer bibliophilen Büchern, Inkunabeln und allerlei esoterischen Werken auch Statuen, Bilder und Altaraufsätze sowie eine reichhaltige Fauna und Flora. Ich folgte der Bernarda durch eine Galerie, die von Blattwerk und Tropenpflanzen strotzte und einen eigentlichen Wintergarten bildete. Durch ihre Verglasung drang schwaches, von Staub und Dunst vergoldetes Licht. Der Hauch eines Klaviers schwebte in der Luft, matt und mit verlassen nachhallenden Tönen. Die Bernarda schwang ihre Hafenarbeiterarme wie Macheten, um sich einen Weg durchs Dickicht zu bahnen. Ich folgte ihr dichtauf, und während ich rundherum alles genau studierte, erblickte ich ein halbes Dutzend Katzen und zwei grellbunte Kakadus von enormen Ausmaßen, die Barceló, wie mir die Bernarda erklärte, Ortega und Gasset getauft hatte. Am andern Ende dieses Waldes erwartete mich Clara in einem auf den Platz hinausgehenden Salon. Im Schutz eines Hauchs von Licht, das durch die Rosette einfiel, und angetan mit einem luftigen, türkisblauen Baumwollkleid, spielte der Gegenstand meiner nebulösen Sehnsüchte Klavier. Clara mochte schlecht spielen, nicht im Takt, und bei der Hälfte der Noten danebengreifen, für mich aber klang ihre Serenade wundervoll, und sie mit einem angedeuteten Lächeln und zur Seite geneigtem Kopf aufrecht vor den Tasten sitzen zu sehen erschien mir wie eine Vision des Himmels. Ich wollte mich räuspern, um meine Anwesenheit kundzutun, doch der Varón-DandyDuft hatte mich schon verraten. Clara brach ihr Konzert abrupt ab, und ein verschämtes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht.
»Einen Augenblick habe ich gedacht, du bist mein Onkel«, sagte sie. »Er hat mir verboten, Mompou zu spielen, weil er sagt, was ich mit ihm mache, sei ein Verbrechen.«
Der einzige Mompou, den ich kannte, war ein verhärmter Geistlicher mit einem Hang zu Blähungen, der uns in Physik und Chemie unterrichtete, und die Gedankenassoziation erschien mir grotesk.
»Ich jedenfalls finde, du spielst wunderbar«, sagte ich.
»Ach was. Mein Onkel, ein
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