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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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erkennen gab, zu ihm und fragte ihn, ob er Sophie suche. Er bejahte.
»Ich bin ein Freund von Julián.«
Die Viçenteta teilte ihm mit, Sophie vegetiere in einer Pension hinter dem Hauptpostamt dahin und warte auf die Abfahrt des Schiffs, das sie nach Südamerika bringen sollte. Miquel wandte sich dorthin und fand ein enges, elendes Treppenhaus ohne Licht und Luft. Zuoberst in dieser staubigen Spirale mit den schiefen Stufen traf er in einem düsteren, feuchten Zimmer auf Sophie Carax. Dem Fenster zugewandt, saß Juliáns Mutter auf der Kante einer tristen Pritsche, auf der wie Särge zwei noch geschlossene Koffer lagen und ihre zweiundzwanzig Barceloneser Jahre besiegelten.
Als sie den von Penélope unterschriebenen Brief las, den Jorge Aldaya Miquel gebracht hatte, vergoß sie Tränen der Wut.
»Sie weiß es«, murmelte sie. »Das arme Ding, sie weiß es …«
»Sie weiß was?« fragte Miquel.
»Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld.«
Verständnislos nahm Miquel ihre Hände. Sophie getraute sich nicht, ihn anzuschauen.
»Penélope und Julián sind Geschwister«, flüsterte sie.
3
    Sophie Carax war knapp neunzehn, als sie mittellos nach Barcelona kam. Eine Musikschule in der Calle Diputación erklärte sich bereit, sie als Privatlehrerin für Klavier und Gesang anzustellen. Damals gehörte es zum guten Ton, daß Töchter angesehener Familien in Gesellschaftskünsten unterrichtet wurden und das nötige Rüstzeug für Salonmusik verabreicht bekamen – im Salon war die Polonaise weniger riskant als das Gespräch oder eine zweifelhafte Lektüre. So begann Sophie Carax, palastähnliche Häuser zu besuchen, wo sie von steifen, stummen Hausangestellten in Musiksalons geführt wurde, in denen der feindselige Nachwuchs der industriellen Aristokratie sie erwartete, um sich über ihren Akzent, ihre Schüchternheit oder ihre Dienstmädchenstellung lustig zu machen, Noten hin oder her. Mit der Zeit lernte sie, sich auf das Zehntel derjenigen Schüler zu konzentrieren, die sich über den Rang von parfümiertem Ungeziefer erhoben, und den Rest zu vergessen.
    In dieser Zeit lernte sie einen jungen Hutmacher (wie er sich mit zünftigem Stolz nannte) namens Antoni Fortuny kennen, der offensichtlich fest entschlossen war, ihr um jeden Preis den Hof zu machen. Fortuny, für den Sophie eine herzliche Freundschaft und sonst nichts empfand, schlug ihr schon bald die Ehe vor – ein Antrag, den sie von Mal zu Mal ausschlug. Bei jedem Abschied vertraute sie darauf, ihn nicht wiederzusehen, da sie ihn nicht kränken mochte. Der Hutmacher, taub für jeden Korb, versuchte es immer von neuem, lud sie auf einen Ball, zu einem Spaziergang oder zu einem Imbiß mit Biskuit und Schokolade in der Calle Canuda ein. Da sie in Barcelona allein war, konnte sie sich kaum gegen seine Gesellschaft und Verehrung zur Wehr setzen. Sie brauchte ihn aber nur anzuschauen, um zu wissen, daß sie ihn nie würde lieben können – nicht so, wie sie sich eines Tages jemanden lieben zu können erträumte. Aber es fiel ihr schwer, das Bild von sich selbst zurückzuweisen, das sie in des Hutmachers verzauberten Augen sah. Nur in ihnen sah sie die Sophie, die sie gern gewesen wäre.
    So tändelte sie aus Einsamkeit oder Schwäche weiter mit dem Werben des Hutmachers und dachte, irgendwann würde er schon ein anderes Mädchen kennenlernen, das eher geneigt wäre, ihn zu erhören. In der Zwischenzeit genügte ihr das Begehrt- und Geliebtwerden, um die Einsamkeit und die Sehnsucht nach allem, was sie zurückgelassen hatte, zu verbrennen. Sie sah Antoni jeweils sonntags nach der Messe. Den Rest der Woche widmete sie sich ihrem Musikunterricht. Ihre Lieblingsschülerin war ein Mädchen mit beachtlichem Talent namens Ana Valls, Tochter eines reichen Textilmaschinenfabrikanten, der mit enormen Anstrengungen und Opfern, vorwiegend anderer Leute, aus dem Nichts ein Vermögen geschaffen hatte. Ana machte kein Hehl aus ihrem Wunsch, einmal eine große Komponistin zu werden, und spielte Sophie kleine selbstkomponierte Stücke vor, in denen sie nicht ohne Geist Motive von Grieg und Schumann nachempfunden hatte. Señor Valls war zwar überzeugt, daß Frauen unfähig waren, etwas anderes als Strümpfe und gehäkelte Decken zu schaffen, sah aber mit Wohlwollen, daß seine Tochter zu einer kundigen Klavierspielerin heranwuchs, denn er hatte Pläne, sie mit irgendeinem Erben eines guten Namens zu verheiraten, und wußte, daß distinguierte Leute an heiratsfähigen jungen Mädchen

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