Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
entfernt aus dem Schatten entgegen. »Kommst du schon, um mich umzubringen?« fragte Miquel. Jorge sagte, er komme, um ihm und seinem Freund Julián einen Gefallen zu tun, gab ihm einen Brief und legte ihm nahe, ihn an Julián weiterzuleiten, wo immer er sich auch verstecken möge, »zum Besten von allen«. Der Umschlag enthielt ein von Penélope beschriebenes Blatt:
Lieber Julián, ich schreibe Dir, um Dir zu sagen, daß ich demnächst heiraten werde, und Dich zu bitten, mir nicht mehr zu
schreiben, sondern mich zu vergessen und noch einmal neu anzufangen. Ich grolle Dir nicht, aber ich wäre unaufrichtig, wenn ich Dir nicht gestände, daß ich Dich nie geliebt habe und nie werde lieben können. Ich wünsche Dir das Beste, wo immer Du sein magst.
Penélope
Miquel las den Brief wieder und wieder. Die Schrift war unverkennbar, doch er glaubte keinen Moment daran, daß ihn Penélope aus eigenem Antrieb geschrieben hatte. »Wo immer du sein magst« – sie wußte ganz genau, daß Julián in Paris war und auf sie wartete. Wenn sie vorgab, seinen Verbleib nicht zu kennen, überlegte Miquel, dann, um ihn zu schützen. Aus dem gleichen Grund konnte er auch nicht verstehen, was sie dazu gebracht haben mochte, diese Zeilen zu schreiben. Womit konnte ihr Don Ricardo Aldaya denn sonst noch drohen, als sie monatelang wie eine Gefangene in einem Zimmer einzuschließen? Penélope wußte besser als jeder andere, daß dieser Brief ein vergifteter Dolchstoß in Juliáns Herz war – ein junger Mann von neunzehn Jahren, verloren in einer fernen, feindlichen Stadt, von allen verlassen, knapp überlebend dank der trügerischen Hoffnung, sie wiederzusehen. Wovor wollte sie ihn schützen, wenn sie ihn dergestalt von sich wies? Nach langem Überlegen beschloß er, den Brief nicht weiterzuschicken. Nicht, bevor er den Grund dafür erfuhr. Ohne triftigen Grund sollte nicht seine Hand es sein, die dem Freund diesen Dolch ins Herz stieße.
Ein paar Tage später hörte er, daß Don Ricardo Aldaya, der es leid war, Jacinta Coronado wie einen Wachposten vor der Tür seines Hauses auf Nachrichten von Penélope lauern zu sehen, seine Beziehungen hatte spielen und die Kinderfrau seiner Tochter ins Irrenhaus von Horta einsperren lassen. Als Miquel Moliner sie besuchen wollte, wurde ihm die Erlaubnis verweigert. Die ersten drei Monate sollte sie in Isolation verbringen. Nach drei Monaten Stille und Dunkelheit, erklärte ihm einer der Ärzte, ein blutjunges, strahlendes Bürschchen, sei die Fügsamkeit der Patientin gewährleistet. Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte Miquel die Pension auf, in der Jacinta in den Monaten nach ihrem Hinauswurf gewohnt hatte. Als er sagte, wer er war, erinnerte sich die Inhaberin, daß Jacinta eine Nachricht auf seinen Namen hinterlassen und drei Wochenmieten schuldig geblieben war. Er beglich die Schuld, an deren Richtigkeit er seine Zweifel hatte, und bekam die Nachricht ausgehändigt, in der die Kinderfrau ihm mitteilte, sie wisse, daß eines der Dienstmädchen im Hause Aldaya, Laura, entlassen worden sei, nachdem man erfahren habe, daß sie Julián insgeheim einen von Penélope verfaßten Brief habe zukommen lassen. Miquel sagte sich, die einzige Adresse, wohin Penélope aus ihrer Gefangenschaft den Brief habe schicken können, sei die Wohnung von Juliáns Eltern in der Ronda de San Antonio, weil sie darauf vertraute, daß sie ihn dann an ihren Sohn nach Paris weiterleiten würden.
Also beschloß er, Sophie Carax zu besuchen, um diesen Brief zu holen und Julián zu schicken. Als er beim Haus der Fortunys eintraf, erlebte er eine unheilverkündende Überraschung: Sophie Carax wohnte nicht mehr dort. Sie hatte ihren Mann einige Tage zuvor verlassen – das wenigstens wurde im Treppenhaus gemunkelt. Nun versuchte er, mit dem Hutmacher zu sprechen, der seine Tage zurückgezogen im Laden verbrachte, von Wut und Demütigung zerfressen. Miquel gab ihm zu verstehen, er sei gekommen, um einen vor einigen Tagen für seinen Sohn Julián eingetroffenen Brief zu holen.
»Ich habe keinen Sohn«, bekam er als einzige Antwort zu hören.
Miquel Moliner ging wieder, ohne zu wissen, daß dieser Brief bei der Pförtnerin des Hauses gelandet war und daß viele Jahre später du, Daniel, ihn finden und die Worte lesen würdest, die Penélope, diesmal von Herzen, an Julián geschrieben hatte und die er nie zu Gesicht bekommen sollte.
Als er den Hutladen Fortuny verließ, trat eine Nachbarin, die sich als Viçenteta zu
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