Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
Vom Netzwerk:
und wußte, daß Julián noch da drin war, lebend, langsam verfallend. Wartend.
    Er hatte die Lippen verloren, aber die Ärzte vermuteten, die Stimmbänder hätten keinen irreparablen Schaden erlitten und die Verbrennungen an Zunge und Kehlkopf seien schon vor Monaten geheilt. Ihrer Meinung nach sagte Julián nur deshalb nichts, weil sein Geist erloschen war. Als wir beide eines Abends, sechs Monate nach dem Brand, allein im Zimmer waren, beugte ich mich über ihn und küßte ihn auf die Stirn.
    »Ich liebe dich«, sagte ich.
    Ein bitteres, heiseres Geräusch quoll aus der Hundegrimasse, zu der der Mund geworden war. Seine Augen waren gerötet. Ich wollte sie ihm mit einem Taschentuch trocknen, aber er wiederholte dieses Geräusch.
    »Laß mich«, hatte er gesagt.
Laß mich.
Zwei Monate nach dem Brand des Lagers in Pueblo Nuevo hatte der Verlag Cabestany Konkurs gemacht. Der alte Cabestany, der noch in diesem Jahr das Zeitliche segnete, hatte prophezeit, sein Sohn werde es fertigbringen, die Firma in sechs Monaten zu ruinieren – ein unverbesserlicher Optimist bis ins Grab. Ich versuchte, in einem andern Verlag Arbeit zu finden, doch der Krieg verschlang alles. Jedermann sagte, er werde bald zu Ende sein und dann werde alles besser. Doch er sollte noch zwei Jahre dauern, und was nachher kam, war womöglich noch schlimmer. Elf Monate nach dem Brand sagten die Ärzte, was sich in einem Krankenhaus tun lasse, sei getan worden, die Zeiten seien schwierig und man brauche das Zimmer, ich solle ihn doch in ein Sanatorium wie das Heim Santa Lucía einweisen. Doch ich weigerte mich. Im Oktober 1937 nahm ich ihn mit nach Hause. Seit jenem »Laß mich« hatte er kein Wort mehr gesagt.
    Ich sagte ihm jeden Tag, ich liebe ihn. Er saß in einem Sessel vor dem Fenster, in Wolldecken eingepackt. Ich ernährte ihn mit Fruchtsäften, Toast und Milch, wenn ich welche fand. Täglich las ich ihm zwei Stunden vor, Balzac, Zola, Dickens … Allmählich nahm er wieder zu. Kurz nach unserer Rückkehr nach Hause begann er die Hände und Arme zu bewegen und neigte den Kopf zur Seite. Manchmal lagen, wenn ich zurückkam, die Decken auf dem Boden, und einige Gegenstände waren umgeworfen. Eines Tages robbte er über den Boden. Anderthalb Jahre nach dem Brand erwachte ich einmal mitten in einer Gewitternacht. Jemand hatte sich auf mein Bett gesetzt und strich mir übers Haar. Die Tränen verbergend, lächelte ich ihm zu. Er hatte einen meiner Spiegel ausfindig gemacht, obwohl ich sie alle versteckt hatte. Mit krächzender Stimme sagte er, er sei zu einem seiner Romanungeheuer geworden, zu Laín Coubert. Ich wollte ihn küssen, ihm zeigen, daß mich sein Aussehen nicht schreckte, aber er ließ mich nicht. Bald würde er nicht einmal mehr zulassen, daß ich ihn berührte. Täglich gewann er neue Kraft. Er strich in der Wohnung umher, während ich etwas zu essen auftrieb. Mit den Ersparnissen, die Miquel hinterlassen hatte, hielten wir uns zwar zunächst über Wasser, aber nach kurzer Zeit mußte ich anfangen, Schmuck und alten Krempel zu verkaufen. Als es nicht mehr anders ging, versilberte ich die in Paris erstandene Füllfeder Victor Hugos an den Meistbietenden. Hinter dem Gebäude der Militärregierung fand ich einen Laden, der diese Art Waren annahm. Den Geschäftsführer schien mein feierlicher Schwur nicht sehr zu beeindrucken, der Füller habe Victor Hugo gehört, aber er anerkannte, daß es ein meisterhaftes Stück war, und bezahlte mir, soviel er konnte, schließlich waren es Zeiten der Not und des Elends. Als ich Julián sagte, ich hätte sie verkauft, fürchtete ich, er werde zornig werden. Doch er sagte bloß, ich hätte gut daran getan, er habe sie nie wirklich verdient.
    Eines Tages war ich wie so oft auf Arbeitssuche gegangen, und bei meiner Rückkehr war Julián nicht da. Er kam erst am frühen Morgen wieder. Auf meine Frage, wo er gewesen sei, leerte er die Manteltaschen (der Mantel hatte Miquel gehört) und legte eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Von da an ging er fast jede Nacht aus. In der Dunkelheit, einen Hut auf dem Kopf und in einen Schal gehüllt, mit Handschuhen und Mantel, war er ein Schatten unter Schatten. Nie sagte er mir, wohin er ging, fast immer aber brachte er Geld oder Schmuckstücke nach Hause. Er schlief vormittags, aufrecht in seinem Sessel sitzend und mit offenen Augen. Einmal fand ich in einer seiner Taschen ein Messer, eine zweischneidige Waffe mit automatischer Springfeder. Die Klinge war mit dunklen

Weitere Kostenlose Bücher