Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
auf Dummheiten«, schloß er traurig. »Darum leben sie länger.«
Obwohl ich so viele böse Geschichten über ihn gehört hatte, konnte ich nicht umhin, mit diesem armen Greis Mitleid zu empfinden. Ich hatte ihn mir als rohen Kerl vorgestellt, als gemeinen, unverträglichen Menschen, aber er erschien mir als gutmütiger Mann, wenn auch blind, verloren wie alle. Vielleicht weil er mich an meinen eigenen Vater erinnerte, der sich vor allen und vor sich selbst in diesem Refugium von Büchern und Schatten versteckte, vielleicht weil uns auch der heftige Wunsch verband, Julián zurückzubekommen, gewann ich ihn lieb und wurde zu seiner einzigen Freundin. Ohne daß Julián etwas davon wußte, besuchte ich ihn oft in seiner Wohnung in der Ronda de San Antonio. Der Hutmacher arbeitete nicht mehr.
Er erwartete mich meistens am Donnerstag und servierte mir Kaffee, Kekse und Süßigkeiten, die er kaum anrührte. Stundenlang erzählte er mir von Juliáns Kindheit, wie sie zusammen in der Hutmacherei gearbeitet hatten, und zeigte mir Fotos. Er führte mich in Juliáns Zimmer, das er in makellosem Zustand bewahrte wie ein Museum, legte mir alte Hefte und unbedeutende Gegenstände vor, die für ihn wie Reliquien eines Lebens waren, das es nie gegeben hatte, und merkte nicht, daß er sie mir bereits früher gezeigt, daß er mir die ganzen Geschichten schon einmal erzählt hatte. An einem solchen Donnerstag begegnete ich auf der Treppe einem Arzt, der eben bei Señor Fortuny gewesen war. Ich fragte ihn nach dem Gesundheitszustand des Hutmachers, und er schaute mich argwöhnisch an.
»Sind Sie eine Angehörige von ihm?«
Ich sagte, von allem, was der arme Mann habe, komme ich dem wohl am nächsten. Da eröffnete mir der Arzt, Fortuny sei sehr krank und habe höchstens noch ein paar Monate zu leben.
»Was hat er denn?«
»Ich könnte Ihnen sagen, es ist das Herz, aber was ihn umbringt, ist die Einsamkeit. Erinnerungen sind schlimmer als die Wunden des Krieges.«
Als er mich erblickte, freute sich der Hutmacher und sagte, dieser Arzt sei nicht vertrauenswürdig, Ärzte seien doch nichts als Hampelmänner einer fragwürdigen Wissenschaft. Allenthalben sehe er die Hand des Teufels, der Teufel trübe den Verstand und führe die Menschen ins Verderben.
»Schauen Sie bloß den Krieg, und schauen Sie mich an. Jetzt wirke ich alt und schlaff, aber als junger Mann war ich ein echter Schurke und sehr niederträchtig.«
Einmal sagte ich zu Julián, falls er seinen Vater lebend wiedersehen wolle, müsse er sich beeilen. Da stellte sich heraus, daß auch er seinen Vater besucht hatte, ohne daß der es wußte. Aus der Ferne, in der Dämmerung, am andern Ende eines Platzes sitzend, wo er zuschaute, wie der Hutmacher alt wurde. Julián war es lieber, daß der Alte die Erinnerung an seinen Sohn mitnahm, die er damals in seinem Kopf geschmiedet hatte, und nicht die Wirklichkeit, zu der er geworden war.
»Die behältst du mir vor«, sagte ich zu ihm und bereute es auf der Stelle.
Er gab keine Antwort, aber einen Augenblick schien es, als ob die Klarheit zu ihm zurückkehre und er erkenne, in was für eine Hölle wir uns da eingeschlossen hatten. Die Prophezeiungen des Arztes verwirklichten sich rasch. Señor Fortuny erlebte das Kriegsende nicht mehr. Man fand ihn in seinem Sessel sitzend, wie er alte Fotos von Sophie und Julián anschaute, in einem Meer von Erinnerungen versunken.
Die letzten Tage des Krieges waren das Vorspiel zur Hölle. Die Stadt hatte das Ganze aus der Distanz erlebt, wie eine Wunde, die im Schlaf pulsiert. Es waren Monate voller Scharmützel und Kämpfe, Bombardements und Hunger vergangen. Mord und Verrat zerfraßen die Seele der Stadt seit Jahren, aber dennoch glaubten viele lieber, der Krieg spiele sich in der Ferne ab, sei ein vorüberziehendes Gewitter. Aber das Warten machte das Unvermeidliche noch schlimmer.
Bald hatte Julián fast keine Bücher mehr zum Verbrennen. Dieser Zeitvertreib war in höhere Hände übergegangen. Der Tod seines Vaters hatte ihn zu einem Schatten seiner selbst gemacht, in dem weder die Wut noch der Haß loderte, die ihn anfänglich aufgezehrt hatten. Wir lebten von der Welt zurückgezogen und von Gerüchten. Wir erfuhren, daß Fumero alle verraten hatte, die ihn im Krieg hatten aufsteigen lassen, und daß er jetzt im Dienst der Sieger stand. Es hieß, er richte seine Hauptverbündeten und Gönner in den Kerkern des Kastells des Montjuïc persönlich hin, indem er sie mit einem Schuß in den
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