Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Cabestany hatte die Angewohnheit gehabt, von jedem der bei uns publizierten Titel ein Exemplar in seinem Büro zu behalten, auch von Julián Carax’ Werken. Ich schlich mich in sein Büro und nahm sie mit.
Am selben Abend besuchte ich meinen Vater im Friedhof der Vergessenen Bücher und versteckte die Bände, wo niemand sie finden konnte, vor allem nicht Julián. Es war Nacht geworden, als ich wieder ging. Die Ramblas hinunterschlendernd, kam ich in die Barceloneta und ging an den Strand, wo ich die Stelle suchte, an der ich mit Julián aufs Meer hinausgeschaut hatte. In der Ferne loderte das Lager von Pueblo Nuevo wie ein Scheiterhaufen, ein bernsteinfarbener Schein ergoß sich aufs Meer, und Feuer- und Rauchspiralen züngelten zum Himmel empor. Als die Feuerwehrmänner kurz vor Tagesanbruch die Flammen endlich löschen konnten, blieb nichts mehr übrig außer einem Skelett aus Ziegelsteinen und Metall, das das Gewölbe gestützt hatte. Dort traf ich Lluís Carbó, der zehn Jahre lang Nachtwächter gewesen war und jetzt fassungslos in die rauchenden Trümmer schaute. Seine Brauen und die Haare auf den Armen waren versengt, und seine Haut glänzte wie feuchte Bronze. Er erzählte mir, der Brand sei kurz nach Mitternacht ausgebrochen, und Zehntausende von Bänden seien ihm zum Opfer gefallen, bis am Morgen nur noch ein Aschenmeer übriggeblieben sei. Lluís hatte noch ein paar Bücher in der Hand, die er als einzige hatte retten können, Gedichtsammlungen von Verdaguer und zwei Bände Geschichte der Französischen Revolution. Die Feuerwehrleute hatten in den Trümmern einen verbrannten Körper gefunden. Zuerst hatten sie ihn für tot gehalten, aber einer hatte festgestellt, daß er noch atmete, und so hatten sie ihn ins Hospital del Mar gebracht.
Ich erkannte ihn an den Augen. Das Feuer hatte seine Haut, die Hände und das Haar verzehrt. Wie mit Peitschenhieben hatten ihm die Flammen die Kleider weggerissen, und sein Körper war eine einzige offene Wunde, die unter dem Verband eiterte. Man hatte ihn am Ende eines Korridors in ein abgelegenes Zimmer mit Sicht auf den Strand verbannt und ihn mit Morphium vollgepumpt, in der Erwartung, er werde sterben. Ich wollte seine Hand halten, aber eine der Krankenschwestern machte mich darauf aufmerksam, daß unter dem Verband kaum noch Fleisch sei. Das Feuer hatte ihm die Lider weggemäht, so daß sein Blick ununterbrochen ins Leere gerichtet war. Die Schwester, die mich weinend auf dem Boden kauern sah, fragte mich, ob ich wisse, wer er sei. Ich bejahte – es sei mein Mann. Einen gierigen Geistlichen, der seine letzten Segnungen spenden wollte, schrie ich in die Flucht. Nach drei Tagen atmete Julián immer noch. Die Ärzte sagten, es sei ein Wunder, die Lust zu leben halte ihn mit Kräften, mit denen die Medizin nicht wetteifern könne, am Leben. Sie täuschten sich. Es war nicht die Lust zu leben, es war der Haß. Eine Woche später, als man sah, daß sich dieser vom Tod überzogene Körper zu sterben weigerte, wurde er offiziell unter dem Namen Miquel Moliner aufgenommen. Er sollte zwölf Monate dableiben. Immer schweigend, der rastlose Blick glühend.
Ich ging täglich ins Krankenhaus. Bald begannen mich die Schwestern zu duzen und luden mich ein, mit ihnen in ihrem Raum zu essen. Es waren alles einsame, starke Frauen, die darauf warteten, daß ihre Männer von der verworrenen Front zurückkehrten. Sie brachten mir bei, Juliáns Wunden zu reinigen, ihm die Verbände zu wechseln, ein Bett mit einem bewegungsunfähigen Körper darin frisch zu beziehen. Sie lehrten mich auch, die Hoffnung aufzugeben, den Mann wiederzusehen, den diese Knochen einmal getragen hatten. Nach dem dritten Monat nahmen wir ihm den Gesichtsverband ab. Hervor kam ein Totenschädel. Er hatte keine Lippen, keine Wangen. Es war ein Gesicht ohne Züge, wie eine verbrannte Puppe. Die Augenhöhlen hatten sich vergrößert und beherrschten jetzt seinen Ausdruck. Vor mir gaben es die Krankenschwestern nicht zu, aber sie empfanden Ekel, fast Angst. Die Ärzte hatten gesagt, wenn die Wunden verheilten, werde sich allmählich eine Art violette Haut wie bei einem Reptil bilden. Niemand wagte etwas über seinen Geisteszustand zu sagen. Alle nahmen als sicher an, daß Julián – Miquel – bei dem Brand den Verstand verloren hatte, daß er nur dank der besessenen Pflege dieser Ehefrau vegetierte und überlebte, welche standhaft blieb, wo jede andere entsetzt das Weite gesucht hätte. Ich schaute ihm in die Augen
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