Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
wo er Penélope gesehen hatte, wo er mit einem kaum siebzehn Jahre alten Mädchen geschlafen hatte, das Monate später in derselben Zelle verbluten sollte. Ich wollte ihn zurückhalten, doch er stand schon auf der Schwelle und schaute gedankenverloren hinein. Ich trat zu ihm. Das Zimmer war nur ein gänzlich schmuckloses Gemach. Unter dem Staubteppich auf den Bohlen erkannte man noch die Spuren eines Betts. Verwirrt betrachtete Julián diese Leere fast eine Minute lang. Ich entnahm seinem Blick, daß er das Zimmer kaum wiedererkannte, daß ihm alles als makabrer, grausamer Trick erschien. Ich nahm ihn am Arm und führte ihn zur Treppe zurück.
»Da gibt es nichts, Julián«, flüsterte ich. »Die Familie hat alles verkauft, bevor sie nach Argentinien aufgebrochen ist.«
Er nickte schwach. Wir stiegen wieder ins Erdgeschoß hinunter. Dort wandte er sich zur Bibliothek. Die Borde waren leer, der Kamin voller Schutt. Auf den fahlen Wänden flackerte die Flamme.
»Ich bin umsonst gekommen«, murmelte Julián.
»Du hast zurückkommen und es noch einmal sehen müssen«, sagte ich. »Jetzt siehst du, daß hier nichts ist. Es ist nur ein alter, leerstehender Kasten. Gehen wir nach Hause.«
Er schaute mich an, bleich, und nickte. Ich nahm ihn an der Hand, und wir gingen durch den Gang auf die Eingangstür zu. Die Helligkeitsbresche von draußen war keine zehn Meter mehr entfernt. Ich konnte schon die frische Luft riechen. Da spürte ich, wie mir Juliáns Hand entglitt. Ich blieb stehen, wandte mich um und sah ihn reglos in die Dunkelheit starren.
»Was ist denn, Julián?«
Er gab keine Antwort, sondern betrachtete gebannt die Öffnung zu einem schmalen Gang, der zu den Küchen führte. Ich ging zu ihm und spähte in das vom Feuerzeug schwach erhellte Dunkel. Die Tür am Ende des Ganges war zugemauert – eine Mauer aus roten, unbeholfen gemörtelten Backsteinen. Ich begriff nicht genau, was das zu bedeuten hatte, aber ich spürte, daß mir die Kälte den Atem benahm. Langsam ging Julián näher. Alle andern Türen des Ganges – und des ganzen Hauses – waren offen, ohne Schlösser und Klinken. Außer der hier. Eine zuhinterst in einem düsteren, versteckten Gang verborgene Schutzmauer aus scharlachroten Backsteinen. Julián legte die Hände darauf.
»Julián, bitte, laß uns endlich gehen …«
Der Schlag seiner Faust an die Backsteinwand erzeugte auf der andern Seite ein hohles Echo. Ich hatte den Eindruck, seine Hände zitterten, als er das Feuerzeug auf den Boden stellte und mich einige Schritte zurücktreten hieß.
»Julián …«
Der erste Fußtritt löste einen rötlichen Staubregen. Julián trat erneut zu. Ich dachte, ich hätte seine Knochen krachen hören. Er ließ sich nicht beirren und hämmerte, nun auch mit den Fäusten, immer wieder auf die Mauer ein, rasend wie ein Gefangener, der sich einen Weg in die Freiheit bahnt. Seine Knöchel bluteten, als der erste Backstein brach und auf die andere Seite fiel. Mit bloßen Fingern vergrößerte er den Durchlaß. Er keuchte erschöpft und von einer Wut besessen, die ich ihm nie zugetraut hätte. Einer nach dem andern gaben die Backsteine nach, und die Mauer fiel. Schweißbedeckt, mit wunden Händen hielt Julián inne. Er nahm das Feuerzeug vom Boden auf und stellte es auf einen der Backsteine. Auf der andern Seite erhob sich eine Holztür mit Engelsmotiven. Er strich über die Reliefs, als entzifferte er Hieroglyphen. Unter dem Druck seiner Hände gab die Tür nach.
Auf der andern Seite war eine Treppe zu erahnen. Schwarze Steinstufen führten in die Dunkelheit hinab. Julián drehte sich kurz um, und ich fand seinen Blick. Angst und Verzweiflung lagen darin. Mit einem Kopfschütteln flehte ich ihn an, nicht hinunterzusteigen. Mutlos wandte er sich wieder ab und tauchte ins Dunkel. Ich schaute durch den Ziegelsteinrahmen und sah ihn die Treppe hinuntersteigen, beinahe taumelnd. Die Flamme flackerte, ein Hauch durchsichtigen Blaus.
»Julián?«
Ich hörte nur Stille. Am Ende der Treppe konnte ich seine reglose Silhouette sehen. Ich trat über die Ziegelsteinschwelle und stieg ebenfalls hinunter. Der Raum war rechteckig und mit marmornen Wänden ausgekleidet. Im Innern herrschte eine schneidende Kälte. Die beiden Grabsteine waren von dicken Spinnweben überwuchert, die in der Flamme des Feuerzeugs wie faulige Seide zerfielen. Aus den vom Graveur gemeißelten Kerben rannen schwarze Feuchtigkeitstränen über den weißen Marmor. Da lagen sie, dicht nebeneinander.
11
Oft
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