Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Mund erledige. Die Maschinerie des Vergessens begann am selben Tag zu hämmern, an dem die Waffen verstummten. Ich lernte, daß nichts mehr Angst macht als ein Überlebender, der erzählen kann, was alle, die an seiner Seite fielen, niemals werden erzählen können. Die Wochen nach dem Fall Barcelonas waren unbeschreiblich. In diesen Tagen wurde ebensoviel Blut vergossen wie in den Gefechten oder noch mehr, nur im verborgenen. Als endlich der Friede kam, roch er nach Gefängnissen und Friedhöfen, ein Leichentuch des Schweigens und der Scham. Es gab weder unschuldige Hände noch harmlose Blicke. Wir, die wir da waren, werden alle ohne Ausnahme schreckliche Geheimnisse mit in den Tod nehmen.
Trotz der Ruhe, die wieder einkehrte, lebten Julián und ich im Elend. Wir hatten sämtliche Ersparnisse und die magere Beute aus Laín Couberts nächtlichen Streifzügen ausgegeben, und zu verkaufen gab es nichts mehr im Haus. Verzweifelt suchte ich Arbeit als Übersetzerin, Stenotypistin oder Putzfrau, aber anscheinend war ich wegen meiner ehemaligen Verbindung zu Cabestany unerwünscht. Ein Beamter im abgeschabten Anzug und mit bleistiftschmalem Schnurrbärtchen, einer von Hunderten, die in diesen Monaten unter den Steinen hervorzukriechen schienen, gab mir zu verstehen, eine attraktive Frau wie ich brauche doch nicht so triviale Verrichtungen auszuüben. Die Nachbarn, die meiner Geschichte, ich pflege meinen armen, vom Krieg invalide gewordenen und entstellten Mann Miquel, Glauben schenkten, boten uns als milde Gaben Milch, Käse oder Brot an, manchmal sogar gesalzenen Fisch oder Würste, die ihnen die Verwandten aus dem Dorf schickten. Da ich nach Monaten der Not zur Überzeugung kam, ich würde noch lange keine Stelle finden, ersann ich eine Kriegslist, die ich einem von Juliáns Romanen entnahm.
Im Namen eines angeblichen frischgebackenen Anwalts, den der verstorbene Señor Fortuny in seinen letzten Tagen zu Rate gezogen habe, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, schrieb ich Juliáns Mutter nach Bogotá und teilte ihr mit, nachdem der Hutmacher gestorben sei, ohne ein Testament zu hinterlassen, gehöre seine Hinterlassenschaft, die auch die Wohnung in der Ronda de San Antonio und den Laden im selben Haus einschließe, jetzt theoretisch seinem Sohn Julián, der mutmaßlich im französischen Exil lebe. Da gewisse Fragen der Erbschaftssteuer noch nicht geregelt seien und sie sich im Ausland befinde, bitte sie der Anwalt, dem ich in Erinnerung an den ersten Jungen, der mich auf den Mund geküßt hatte, den Namen José María Requejo gab, um Erlaubnis, die entsprechenden Schritte zu unternehmen, um die Übertragung der Besitztümer auf den Namen ihres Sohnes Julián in die Wege zu leiten, mit dem ich durch die spanische Botschaft in Paris in Kontakt treten wolle, wobei ich in der Zwischenzeit vorübergehend deren Rechtsinhaberschaft übernehmen werde. Desgleichen bat ich sie, Verbindung mit dem Hausverwalter aufzunehmen, damit er das Urkundenmaterial und die Rechnungen für die Auslagen der Wohnung Fortuny an das Anwaltsbüro Requejo überweise, auf dessen Namen ich ein Postfach mit fiktiver Adresse eröffnete, eine alte, leerstehende Garage zwei Straßen vom Aldaya-Haus entfernt. Meine Hoffnung bestand darin, daß Sophie, blind angesichts der Möglichkeit, Julián zu helfen und den Kontakt zu ihm wiederherzustellen, diesen ganzen Unsinn nicht in Frage stellen und sich bereit erklären würde, uns aufgrund ihres Wohlstands im fernen Kolumbien zu helfen.
Zwei Monate später begannen dem Hausverwalter monatliche Überweisungen zuzufließen, die die Auslagen für die Wohnung in der Ronda de San Antonio und die Bezüge des Anwaltsbüros von José María Requejo deckten, welche er in Form eines Inhaberschecks ans Postfach 2321 in Barcelona überwies, wie Sophie Carax in ihren Briefen verfügt hatte. Ich stellte fest, daß der Verwalter monatlich ohne Ermächtigung einen bestimmten Prozentsatz für sich behielt, sagte aber nichts. So war er zufrieden und stellte keine Fragen zu diesem mühelosen Geschäft. Vom Rest konnten Julián und ich überleben. Auf diese Weise vergingen schreckliche, hoffnungslose Jahre. Mit der Zeit war ich zu ein paar Aufträgen als Übersetzerin gekommen. Niemand erinnerte sich mehr an Cabestany – es wurde eine Politik des Vergessens betrieben, die über alte Rivalitäten und Haßgefühle Gras wachsen ließ. Doch ich war in ständiger Angst, Fumero könnte von neuem in der Vergangenheit wühlen
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