Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Treppe hinunterstieg, lief mir Mercedes nach und reichte mir einen Umschlag, der ein Bündel Geldscheine und Münzen enthielt.
»Fast alle haben beigesteuert, was sie konnten. Nimm es, bitte. Nicht deinet-, sondern unseretwegen.«
Als ich an diesem Abend in die Wohnung in der Ronda de San Antonio ging, erwartete mich Julián wie immer im Dunkeln sitzend. Er habe ein Gedicht für mich geschrieben, sagte er. Das erste, was er seit neun Jahren geschrieben hatte. Ich wollte es lesen, doch ich zerbrach in seinen Armen. Ich erzählte ihm alles, ich konnte einfach nicht mehr. Ich fürchtete, Fumero würde ihn über kurz oder lang finden. Julián hörte mir schweigend zu, während er mich in den Armen hielt und mir übers Haar strich.
Zum ersten Mal seit Jahren spürte ich, daß ich mich bei ihm anlehnen konnte. Krank vor Einsamkeit, wollte ich ihn küssen, aber Julián hatte mir weder Lippen noch Haut zu geben. Zusammengekauert auf dem Bett in seinem Zimmer, einer Jungenpritsche, schlief ich in seinen Armen ein. Als ich erwachte, war er nicht da. Im Morgengrauen vernahm ich seine Schritte auf dem Dach und stellte mich schlafend. Später an diesem Vormittag hörte ich im Radio die Nachricht, ohne mir etwas dabei zu denken. Auf einer Bank auf dem Paseo del Borne war eine Leiche gefunden worden, die Hände im Schoß gefaltet und den Blick auf die Basilika Santa María del Mar gerichtet. Einem Nachbarn fiel ein Schwarm Tauben auf, die ihr die Augen auspickten, und er benachrichtigte die Polizei. Die Leiche hatte einen gebrochenen Hals. Señora Sanmartí identifizierte sie als ihren Mann, Pedro Sanmartí Monegal. Als der Schwiegervater des Verstorbenen in seinem Altenheim die Nachricht hörte, dankte er dem Himmel und sagte sich, jetzt könne er in Frieden sterben.
13
Julián hatte einmal geschrieben, Zufälle seien die Narben des Schicksals. Es gibt keine Zufälle, Daniel. Jahrelang hatte ich mir eingeredet, Julián sei noch immer der Mann, in den ich mich verliebt hatte – oder seine Asche. Ich hatte geglaubt, mit ein bißchen Seufzen und Hoffen kämen wir irgendwie weiter. Ich hatte geglaubt, Laín Coubert sei gestorben und in die Seiten eines Buches zurückgekehrt. Wir Menschen sind fest entschlossen, alles eher zu glauben als die Wahrheit.
Der Mord an Sanmartí öffnete mir die Augen. Mir wurde klar, daß Laín Coubert noch immer lebte, verbissener denn je. Er wohnte im von den Flammen entstellten Körper des Mannes, von dem nicht einmal mehr die Stimme geblieben war, und ernährte sich von der Erinnerung. Ich entdeckte, daß er herausgefunden hatte, wie er durch ein Fenster, das auf den zentralen Lichtschacht hinausführte, in der Wohnung in der Ronda de San Antonio ein- und ausgehen konnte, ohne die Tür aufbrechen zu müssen, die ich beim Gehen jedesmal abschloß. Ich entdeckte, daß Laín Coubert alias Julián Carax die ganze Stadt durchquert hatte, um das Aldaya-Haus aufzusuchen. Ich entdeckte, daß er in seinem Wahn irgendwann zu der Krypta zurückgekehrt war und die Gräber geöffnet hatte, daß er Penélopes Sarg und den ihres Kindes herausgenommen hatte.
»Was hast du getan, Julián?«
Kurz nachdem ich den Verlag verlassen hatte, wartete eines Tages, als ich vom Einkaufen zurückkehrte, zu Hause die Polizei auf mich, um mich zum Tod von Sanmartí zu verhören. Ich wurde aufs Präsidium gebracht, wo sich nach fünf Stunden Warten in einem dunklen Büro Fumero in Schwarz einstellte und mir eine Zigarette anbot.
»Sie und ich, wir könnten doch gute Freunde sein, Señora Moliner. Meine Leute sagen mir, Ihr Mann ist nicht zu Hause.«
»Mein Mann hat mich verlassen. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Mit einer brutalen Ohrfeige warf er mich vom Stuhl. Voller Panik schleppte ich mich in eine Ecke. Ich wagte nicht aufzuschauen. Fumero kniete neben mir nieder und riß mich an den Haaren.
»Paß gut auf, du Scheißnutte: Ich werde ihn finden, und dann bring ich euch beide um. Dich zuerst, damit er dich mit heraushängenden Därmen sieht. Und dann ihn, nachdem ich ihm erzählt habe, daß die andere Hure, die er ins Grab gebracht hat, seine Schwester war.«
»Zuerst wird er dich umbringen, du Schweinehund.«
Fumero spuckte mir ins Gesicht und ließ mich los. Ich dachte, jetzt werde er mich zu Tode prügeln, aber ich hörte, wie sich seine Schritte auf dem Gang entfernten. Zitternd stand ich auf und wischte mir das Blut aus dem Gesicht.
Sechs Stunden wurde ich in diesem Raum festgehalten, im Dunkeln und ohne Wasser. Als man
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