Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
stimmt.
»Wer ist denn dieser Junge?«
»Er heißt Daniel. Er ist der Sohn eines Buchhändlers in der Calle Santa Ana, den Miquel oft aufgesucht hat. Er wohnt bei seinem Vater in einer Wohnung über dem Laden und hat als kleiner Junge seine Mutter verloren.«
»Es ist, als sprichst du von dir.«
»Vielleicht. Dieser Bursche erinnert mich an mich selbst.«
»Laß ihn in Ruhe, Julián. Er ist nur ein Junge. Sein einziges Verbrechen ist, daß er dich bewundert.«
»Das ist kein Verbrechen, das ist Naivität. Aber es wird vorbeigehen. Vielleicht gibt er mir dann auch das Buch zurück – wenn er mich einmal nicht mehr bewundert und mich zu verstehen beginnt.«
Eine Minute vor Filmende stand Julián auf und schlich sich im Schutz der Dunkelheit davon. Monatelang sahen wir uns immer so, im Dunkeln, in Kinos oder in einer Gasse um Mitternacht. Er fand mich immer. Immer auf der Hut, spürte ich seine stille Anwesenheit, ohne ihn zu sehen. Manchmal sprach er über dich, und dann meinte ich aus seiner Stimme eine Art Zärtlichkeit herauszuhören, die ihn verwirrte und die ich seit vielen Jahren verloren geglaubt hatte. Ich erfuhr, daß er zum Aldaya-Haus zurückgegangen war und jetzt, halb Gespenst, halb Bettler, dort lebte, die Ruinen seines Lebens abschritt und die Gräber von Penélope und ihrer beider Kind bewachte. Das war der einzige Ort auf der Welt, den er noch als ihm gehörend empfand. Es gibt schlimmere Gefängnisse als die Worte.
Einmal im Monat ging ich ebenfalls dorthin, um mich zu vergewissern, daß er wohlauf war oder wenigstens noch lebte. Ich kletterte im hinteren, von der Straße aus nicht sichtbaren Teil über die halb eingestürzte Mauer. Manchmal traf ich ihn an, manchmal war er verschwunden. Ich ließ ihm Lebensmittel, Geld, Bücher zurück … Stundenlang wartete ich auf ihn, bis es dunkel wurde. Bisweilen getraute ich mich sogar, das Haus auszukundschaften. So fand ich heraus, daß er die Gräber in der Krypta geöffnet und die Särge herausgenommen hatte. Ich dachte nicht mehr, Julián sei verrückt, und sah in dieser Schändung auch keine Ungeheuerlichkeit mehr, nur noch ein tragisches Verhängnis. Wenn er dort war, redeten wir stundenlang vor dem Kaminfeuer. Julián gestand mir, er habe wieder zu schreiben versucht, aber nicht gekonnt. Er erinnerte sich undeutlich an seine Bücher, als hätte er sie gelesen, als wären sie die Werke von jemand anderem. Ich entdeckte, daß er die in meiner Abwesenheit fieberhaft geschriebenen Seiten ins Feuer geworfen hatte. Als er einmal nicht da war, nutzte ich die Gelegenheit und rettete ein Bündel Seiten aus der Asche. Sie handelten von dir. Julián hatte einmal gesagt, ein Roman, eine Erzählung seien Briefe, die sich der Autor selbst schreibe, um sich Dinge zu erzählen, welche er anders nicht herausfinden könnte. Schon seit einiger Zeit fragte er sich, ob er den Verstand verloren hatte. Weiß der Verrückte, daß er verrückt ist? Oder sind die andern die Verrückten, diejenigen, die ihn von seiner Unvernunft zu überzeugen versuchen, um ihre schimärische Existenz zu bewahren? Julián beobachtete dich, sah dich groß werden und fragte sich, wer du seist. Er fragte sich, ob dein Dasein vielleicht einfach ein Wunder sei, eine Vergebung, die er sich verdienen mußte, indem er dich lehrte, nicht die gleichen Fehler zu begehen wie er. Mehr als einmal fragte ich mich, ob er in der verqueren Logik seines Universums nicht schließlich zu der Überzeugung gekommen war, du seist zu dem Sohn geworden, den er verloren hatte, zu einem neuen unbeschriebenen Blatt, um diese Geschichte, die er nicht erfinden konnte, noch einmal von vorn zu beginnen.
So vergingen die Jahre im Aldaya-Haus, und Julián lebte immer stärker durch dich, deine Fortschritte. Er erzählte mir von deinen Freunden, von einer Frau namens Clara, in die du dich verliebt hattest, von deinem Vater, einem Mann, den er bewunderte und schätzte, von deinem Freund Fermín und einem Mädchen, in dem er eine neue Penélope sah, deiner Bea. Er sprach von dir wie von einem Sohn. Ihr habt einander gesucht, Daniel. Er glaubte, deine Unschuld würde ihn vor sich selbst retten. Er hatte aufgehört, seine Bücher zu verfolgen, hatte den Wunsch aufgegeben, seine Spur im Leben zu verbrennen und zunichte zu machen. Er lernte, die Welt durch deine Augen neu zu buchstabieren, in dir den Jungen wiederzufinden, der er gewesen war. Als du zum ersten Mal zu mir kamst, spürte ich, daß ich dich schon kannte. Ich spielte die
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