Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Argwöhnische, um die Angst zu verbergen, die du mir einflößtest. Ich hatte Angst vor dir, vor dem, was du herausfinden könntest. Ich hatte Angst, Julián zuzuhören und allmählich wie er zu glauben, daß wir tatsächlich alle durch eine seltsame Kette von Schicksalen und Zufällen miteinander verbunden seien. Ich hatte Angst, in dir den verlorenen Julián zu erkennen. Ich wußte, daß du und dein Freund in unserer Vergangenheit forschtet. Ich wußte, daß du früher oder später die Wahrheit herauskriegen würdest, hoffte aber, es geschähe zu gegebener Zeit – dann, wenn du auch ihre Bedeutung verstehen könntest. Ich wußte, daß du und Julián euch irgendwann begegnen würdet. Aber es gab noch einen, der es wußte, einen, der spürte, daß du ihn mit der Zeit zu Julián führen würdest: Fumero.
Erst als es kein Zurück mehr gab, begriff ich, was da vor sich ging, aber ich verlor nie die Hoffnung, du könntest die Spur verlieren, könntest uns vergessen oder das Leben, deins, nicht unseres, würde dich weit weg führen, in Sicherheit bringen. Die Zeit hat mich gelehrt, die Hoffnung nicht zu verlieren, aber auch, nicht allzusehr auf sie zu bauen. Die Hoffnung ist grausam und eitel, hat kein Gewissen. Fumero ist mir schon seit langem auf den Fersen. Er weiß, daß er mich früher oder später kriegen wird. Er hat keine Eile, darum ist er unberechenbar. Er lebt, um sich zu rächen. An allen und an sich selbst. Ohne Rache, ohne Wut würde er sich auflösen. Er weiß, daß du ihn zu Julián führen wirst. Er weiß, daß ich nach fast fünfzehn Jahren keine Kraft und keine Mittel mehr habe. Er hat mich jahrelang sterben sehen und wartet nur den geeigneten Moment ab, um mir den letzten Schlag zu versetzen. Ich habe nie daran gezweifelt, daß ich von seiner Hand sterben werde. Jetzt weiß ich, daß der Moment nahe ist. Ich werde diese Seiten meinem Vater anvertrauen, damit er sie dir weitergibt, wenn mir etwas zustößt. Ich bitte diesen Gott, dem ich nie begegnet bin, du mögest sie nie zu lesen bekommen, aber ich spüre, daß es, entgegen meinem Willen und meinen Hoffnungen, mein Schicksal ist, dir diese Geschichte zu übergeben.
Wenn du diese Worte liest, dieses Gefängnis der Erinnerungen, heißt das, daß ich mich nicht mehr von dir werde verabschieden können, wie ich es gewollt hätte, daß ich dich nicht bitten kann, uns zu verzeihen, vor allem Julián, und für ihn zu sorgen, wenn ich nicht mehr da bin, um es zu tun. Ich weiß, daß ich dich um nichts bitten darf, außer daß du dich rettest. Vielleicht haben mich all diese Seiten zur Überzeugung gebracht, daß ich, was auch geschehen möge, in dir immer einen Freund haben werde, daß du meine einzige wirkliche Hoffnung bist. Von allem, was Julián geschrieben hat, ist mir immer das am nächsten gewesen, daß wir, solange man sich unser erinnert, am Leben bleiben. So, wie es mir oft mit Julián ergangen ist, Jahre bevor ich ihm begegnete, so spüre ich, daß ich dich kenne und daß, wenn ich überhaupt jemandem vertrauen kann, du es bist. Denk an mich, Daniel, und sei es bloß im verborgenen. Laß mich nicht gehen.
Nuria Monfort
DER SCHATTEN DES WINDES 1955
1
Es wurde schon hell, als ich Nuria Monforts Manuskript zu Ende gelesen hatte. Das war meine Geschichte. Unsere Geschichte. In Carax’ verlorenen Schritten erkannte ich jetzt die meinen. Von Unruhe verzehrt, stand ich auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. All meine Bedenken, Besorgnisse, Befürchtungen wurden jetzt zu Asche. Müdigkeit, schlechtes Gewissen und Angst übermannten mich, aber ich fühlte mich außerstande, zu Hause zu bleiben und mich vor den Folgen meiner Taten zu verkriechen. Ich schlüpfte in den Mantel, steckte das zusammengefaltete Manuskript in die Innentasche und rannte die Treppe hinunter. Als ich aus der Haustür trat, hatte es zu schneien begonnen. Ich eilte auf die verlassene Plaza de Cataluña. In der Mitte erhob sich einsam die Gestalt eines alten Mannes mit weißem Haar, der in einem grauen Mantel steckte. König des Morgengrauens, schaute er zum Himmel empor und versuchte vergeblich, mit den Handschuhen Schneeflocken zu erhaschen, lachend. Als ich an ihm vorbeiging, schaute er mich an und lächelte feierlich, als könnte er mit einem einzigen Blick meine Seele lesen.
»Viel Glück«, glaubte ich ihn sagen zu hören.
Ich versuchte mich an diesen Segensspruch zu klammern und beschleunigte meine Schritte; ich betete, es möchte nicht zu spät sein und Bea, die
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