Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
spanischen Botschaft in Paris, ich wisse mit Bestimmtheit, daß der spanische Staatsangehörige Julián Carax in der Stadt sei, und bat sie, mir bei der Suche nach ihm behilflich zu sein. Ich vermutete, früher oder später würden die Briefe in die entsprechenden Hände fallen. Zwar ergriff ich sämtliche denkbaren Vorsichtsmaßnahmen, doch ich wußte, daß alles nur eine Frage der Zeit war. Leute wie Fumero hören nie auf zu hassen. Ihr Haß kennt weder Sinn noch Grund. Sie hassen, wie sie atmen.
Die Wohnung in der Ronda de San Antonio war eine Dachgeschoßwohnung. Ich entdeckte, daß man vom Treppenhaus durch eine Tür auf die Dachterrasse gelangen konnte. Die Dächer des ganzen Häusergevierts bildeten ein Netz von zusammengebauten, durch knapp meterhohe Mauern voneinander getrennten Terrassen, auf denen die Bewohner ihre Wäsche aufhängten. Bald machte ich ein Haus auf der andern Seite des Blocks ausfindig, das auf die Calle Joaquín Costa hinausging und auf dessen Dach ich Zugang hatte, so daß ich über die Mauer zum Haus in der Ronda de San Antonio gelangen konnte, ohne daß mich dort jemand hineingehen oder herauskommen sah. Einmal teilte mir der Verwalter brieflich mit, einige Nachbarn hätten in der Fortuny-Wohnung Geräusche gehört. Im Namen von Anwalt Requejo antwortete ich, gelegentlich habe ein Mitarbeiter des Büros dort Papiere oder Dokumente holen müssen, und es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, auch wenn die Geräusche nachts zu hören seien. Ich deutete an, unter Gentlemen, Buchhaltern und Anwälten sei eine geheime Absteige heiliger als der Palmsonntag. Der Verwalter zeigte Korpsgeist und antwortete, ich brauchte mich nicht im geringsten zu sorgen, er verstehe die Situation vollauf.
In jenen Jahren bestand mein einziges Vergnügen darin, die Rolle des Anwalts Requejo zu spielen. Einmal im Monat besuchte ich meinen Vater im Friedhof der Vergessenen Bücher. Nie äußerte er ein Interesse daran, diesen unsichtbaren Ehemann kennenzulernen, und ich bot ihm auch nie an, sie einander vorzustellen. In unseren Gesprächen umgingen wir das Thema, wie erfahrene Seeleute eine Klippe knapp unter der Wasseroberfläche umschiffen. Bisweilen schaute er mich einfach schweigend an und fragte dann, ob ich Hilfe brauche, ob er irgend etwas für mich tun könne. An manchen Samstagen führte ich Julián frühmorgens ans Meer. Wir stiegen auf die Dachterrasse hinauf und dann aufs Nachbarhaus hinüber, um von dort aus auf die Calle Joaquín Costa zu gelangen. Dann spazierten wir durch die Gassen des Raval zum Hafen hinunter. Niemand stellte sich uns in den Weg, vor Julián hatte man sogar aus der Ferne Angst. Ab und zu gingen wir bis zum Wellenbrecher hinaus. Julián setzte sich gern auf die Felsblöcke und schaute gegen die Stadt. Stundenlang saßen wir so dort, mehr oder weniger ohne ein Wort zu wechseln. Manchmal schlichen wir uns nachmittags nach Vorstellungsbeginn auch ins Kino. In der Dunkelheit schenkte Julián niemand Beachtung. Wir lebten nachts und schweigend. Während die Monate vergingen, lernte ich, Routine mit Normalität zu verwechseln, und mit der Zeit glaubte ich sogar, mein Plan sei vollkommen gewesen. Ich arme Irre.
12
1945, Jahr der Asche. Erst sechs Jahre waren seit dem Ende des Bürgerkriegs vergangen, und obwohl seine Narben allenthalben spürbar waren, sprach auch jetzt fast niemand offen über ihn. Jetzt redete man vom andern Krieg, vom Weltkrieg, der den Globus mit einem Gestank von Aas und Niedertracht überzogen hatte, den er nie wieder loswerden sollte. Es waren Jahre der Not und des Elends. Nachdem ich jahrelang vergeblich Arbeit als Übersetzerin gesucht hatte, fand ich schließlich eine Stelle als Mitarbeiterin eines Verlegers namens Pedro Sanmartí. Dieser, neu in der Branche, hatte den Verlag mit dem Vermögen seines Schwiegervaters gegründet, den er danach in ein Altenheim am See von Banolas gesteckt hatte, in der Erwartung, per Post seine Sterbeurkunde zugeschickt zu bekommen. Sanmartí, der gern jungen Mädchen den Hof machte, die halb so alt waren wie er, hatte sich mit der damals modischen Bezeichnung Selfmademan selig gesprochen. Überzeugt, es sei die Sprache der Zukunft, schloß er all seine Sätze mit einem lässigen okay.
Der Verlag – den Sanmartí auf den seltsamen Namen Endymion getauft hatte, weil er nach Kathedrale klang und geeignet schien, die Kasse klingeln zu lassen – gab Katechismen, Benimmbücher und eine Reihe erbaulicher Romane heraus, in denen Nonnen,
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