Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
legte die Finger auf den Knauf. Sie zitterten. Ich war zu spät gekommen. Ich schluckte und öffnete die Tür.
3
Claras nackter Körper lag auf weißen, wie Seide glänzenden Laken. Maestro Neris Hände glitten über ihre Lippen, den Hals, die Brust. Ihre leer blickenden Augen waren an die Decke gerichtet. Dieselben Hände, die sechs Jahre zuvor in der Dunkelheit des Athenäums mein Gesicht gelesen hatten, umklammerten nun das schweißglänzende Gesäß des Maestro, bohrten ihm ihre Nägel in die Haut und führten ihn mit wilder Begierde in sich hinein. Ich spürte, daß ich keine Luft bekam. Ich muß wie gelähmt dort stehengeblieben sein und sie fast eine halbe Minute beobachtet haben, bis Neris anfänglich ungläubiger, dann wutentbrannter Blick auf mich fiel. Keuchend hielt er inne. Clara umschlang ihn, ohne etwas zu begreifen, rieb ihren Körper an seinem und leckte seinen Hals.
»Was ist denn? Warum hörst du auf?«
Adrián Neris Augen glühten vor Zorn.
»Nichts«, stieß er hervor. »Bin gleich wieder da.« Er stand auf und stürzte sich mit geballten Fäusten auf mich. Ich sah ihn nicht einmal kommen. Ich konnte die Augen nicht von der schweißgebadeten, atemlosen Clara, deren Rippen sich unter der Haut abzeichneten, und ihren sehnsüchtig bebenden Brüsten abwenden. Der Musiklehrer packte mich am Hals und schleifte mich aus dem Zimmer. Ich spürte, daß meine Füße kaum den Boden berührten, und sosehr ich auch zappelte, ich konnte mich nicht aus dem Klammergriff Neris befreien, der mich wie einen Sack Kartoffeln durch den Wintergarten trug.
»Dir werde ich den Schädel einschlagen, du Dreckskerl«, murmelte er zwischen den Zähnen.
Er schleppte mich zur Wohnungstür und riß sie auf, um mich auf den Treppenabsatz hinauszuschleudern. Carax’ Buch war mir aus den Händen gefallen. Er hob es auf und warf es mir zornig an den Kopf.
»Wenn ich dich hier noch einmal sehe oder erfahre, daß du dich auf der Straße an Clara rangemacht hast, dann schlage ich dich krankenhausreif, das schwör ich dir, und es ist mir schnurz, wie alt du bist. Kapiert?«
Mühsam richtete ich mich auf und stellte fest, daß Neri mir auch gleich das Jackett und den Stolz zerfetzt hatte. »Wie bist du reingekommen?«
Ich gab keine Antwort. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
»Los, her mit den Schlüsseln«, zischte er mit kaum verhaltener Wut.
»Welche Schlüssel?«
Seine Ohrfeige warf mich zu Boden. Mit blutendem Mund und einem grellen Sausen im linken Ohr stand ich wieder auf. Ich befühlte mein Gesicht und spürte unter den Fingern den Schnitt brennen, der mir die Lippen gespalten hatte. Am blutbeschmierten Ringfinger des Musiklehrers glänzte ein Siegelring.
»Die Schlüssel, hab ich gesagt.«
»Fahren Sie zur Hölle«, fauchte ich.
Ich sah den Hieb nicht kommen, sondern hatte nur das Gefühl, ein Fallhammer habe mir den Magen herausgeschlagen. Ich klappte zusammen, unfähig zu atmen, und taumelte gegen die Wand. Neri riß mich an den Haaren hoch und wühlte in meinen Taschen herum, bis er die Schlüssel hatte. Ich sank zu Boden, hielt mir den Magen und wimmerte vor Schmerz oder Wut.
»Sagen Sie Clara, daß …«
Er schlug mir die Tür vor der Nase zu und ließ mich in vollkommener Dunkelheit liegen. Ich tastete nach dem Buch, und als ich es gefunden hatte, glitt ich die Wände entlang treppab. Blut spuckend und japsend erreichte ich die Straße. Kälte und Wind pappten mir schmerzhaft die nassen Kleider an den Leib. Der Schnitt im Gesicht brannte.
»Ist alles in Ordnung?« fragte eine Stimme im Schatten.
Es war der Bettler, dem ich kurz zuvor die Hilfe versagt hatte. Beschämt wich ich seinem Blick aus und nickte. Dann wollte ich loslaufen.
»Warten Sie doch einen Moment, wenigstens bis der Regen nachläßt.«
Er nahm mich am Arm und führte mich in eine Ecke unter den Arkaden, wo er ein Kleiderbündel und eine Tüte mit schmutziger alter Wäsche liegen hatte.
»Ich habe etwas Kognak. Er ist nicht schlecht. Trinken Sie ein bißchen. Das wird Ihnen helfen, sich aufzuwärmen. Und um das da zu desinfizieren …«
Ich trank einen Schluck aus der Flasche, die er mir reichte. Er schmeckte nach mit Essig veredeltem Terpentin, aber seine Wärme beruhigte Magen und Nerven. Einige Tropfen bespritzten meine Wunde, und in der schwärzesten Nacht meines Lebens sah ich Sterne.
»Gut, was?« Der Bettler lächelte. »Los, nehmen Sie noch ein Schlückchen, das erweckt Tote zum Leben.«
»Nein, danke. Für Sie«, flüsterte ich.
Er
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