Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
noch in den Windeln gesteckt, und es sieht nicht so aus, als hätten Sie sich stark weiterentwickelt, ehrlich gesagt. Schauen Sie sich an – Sie zittern ja.«
»Das ist wegen der nassen Kleider und der Kälte hier drin.«
»Das nächste Mal geben Sie mir Bescheid, und ich schalte die Zentralheizung ein, um Sie auf Händen zu tragen, Schätzchen. Los, kommen Sie mit. Da ist mein Büro, da gibt es eine Heizung und etwas, was Sie sich überziehen können, während wir Ihre Kleider trocknen. Und ein wenig Mercurochrom und Wasserstoffperoxid würde auch nicht schaden, Sie haben ja eine Visage, als kämen Sie geradewegs vom Polizeirevier in der Vía Layetana.«
»Machen Sie bitte keine Umstände.«
»Ich mache keine Umstände. Das tue ich für mich, nicht für Sie. Hinter dieser Tür stelle ich die Regeln auf, und die einzigen Toten hier sind die Bücher. Nicht, daß Sie sich noch eine Lungenentzündung holen und ich die Leute von der Leichenhalle holen muß. Um das Buch da kümmern wir uns später. In achtunddreißig Jahren habe ich noch keins davonlaufen sehen.«
»Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin …«
»Reden Sie keinen Unsinn. Wenn ich Sie hereingebeten habe, dann aus Respekt vor Ihrem Vater, sonst hätte ich Sie auf der Straße gelassen. Folgen Sie mir bitte. Und wenn Sie sich anständig benehmen, erzähle ich Ihnen vielleicht, was ich über Ihren Freund Julián Carax weiß.«
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, daß er lächelte wie ein gerissener Gauner, als er sich unbeobachtet fühlte. Ganz offensichtlich genoß Isaac seine Rolle als unheimlicher Zerberus. Auch ich mußte bei mir lächeln. Jetzt war der letzte Zweifel ausgeräumt, wem das Gesicht des Türklopferteufelchens gehörte.
4
Isaac warf mir zwei dünne Decken über die Schultern und gab mir eine Tasse mit einem dampfenden Gesöff, das nach heißer Schokolade mit Schnaps roch.
»Sie wollten mir von Carax erzählen …«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der erste, den ich Carax habe erwähnen hören, war Toni Cabestany, der Verleger. Das war vor zwanzig Jahren, als der Verlag noch existierte. Immer wenn Cabestany von seinen Reisen nach London, Paris oder Wien zurückkam, ist er hier aufgekreuzt, und wir haben eine Weile geplaudert. Wir waren beide verwitwet, und er beklagte sich, daß wir jetzt mit den Büchern verheiratet seien, ich mit den alten und er mit denen der Buchhaltung. Wir waren gute Freunde. Bei einem seiner Besuche hat er mir erzählt, er habe soeben für ein paar Münzen die spanischen Rechte der Romane eines gewissen Julián Carax gekauft, eines Barcelonesen, der in Paris lebe. Das muß im Jahr 28 oder 29 gewesen sein. Anscheinend hat Carax nachts in einem schäbigen Bordell in Pigalle als Pianist gearbeitet und tagsüber in einer elenden Dachwohnung in Saint-Germain geschrieben. Paris ist die einzige Stadt der Welt, wo Verhungern noch als Kunst gilt. Carax hatte in Frankreich zwei Romane veröffentlicht, die sich als absolute Ladenhüter erwiesen haben. In Paris gab keiner einen Pfifferling für ihn, und Cabestany hatte schon immer gern billig Rechte erworben.«
»Hat Carax denn nun auf spanisch oder französisch geschrieben?«
»Nun, vermutlich beides. Seine Mutter war Französin, Musiklehrerin, glaube ich, und er hatte in Paris gelebt, seit er neunzehn oder zwanzig war. Cabestany sagte, sie bekämen die Manuskripte von Carax auf spanisch. Ob es Übersetzungen oder Originale waren, hat ihn nicht gekümmert. Cabestanys Lieblingssprache war die der klingenden Münze, alles andere war ihm vollkommen egal. Er hatte sich gedacht, vielleicht könne er mit einem glücklichen Zufall einige tausend Carax-Exemplare auf dem spanischen Markt plazieren.«
»Und – ist es ihm gelungen?«
Isaac runzelte die Stirn und schenkte mir noch etwas von seinem wohltuenden Gebräu nach.
»Ich glaube, der Roman, von dem er am meisten verkauft hat, war Das rote Haus – etwa neunzig Exemplare.«
»Aber er hat weiterhin Carax veröffentlicht, obwohl er Geld damit verlor«, bemerkte ich.
»So ist es. Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, warum. Cabestany war nicht eben ein Romantiker. Aber vielleicht hat jeder Mensch seine Geheimnisse … Zwischen 1928 und 36 hat er acht Romane von ihm herausgebracht. Womit Cabestany wirklich Geld gemacht hat, das war mit den Katechismen und einer Reihe von billigen Liebesromanen, in denen eine Heldin aus der Provinz die Hauptrolle spielte, Violeta LaFleur, die sind an den Kiosken sehr gut gelaufen.
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