Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
ist. Manchmal stinkt es sogar. Ich würde sagen, es gibt Ratten und so, stellen Sie sich vor.«
»Glauben Sie, es wäre möglich, einen Blick hineinzuwerfen? Vielleicht finden wir etwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, was mit Julián wirklich geschehen ist …«
»Oh, das kann ich nicht machen. Darüber müssen Sie mit Señor Molins sprechen, der ist dafür zuständig.« Ich lächelte ihr verschmitzt zu.
»Aber Sie haben doch vermutlich einen Hauptschlüssel – auch wenn Sie diesem Kerl gesagt haben, nein … Sagen Sie nicht, Sie sterben nicht vor Neugier, zu erfahren, was da drin ist.«
Doña Aurora schaute mich schief an.
»Sie sind ein Teufel.«
Mit einem plötzlichen Ächzen gab die Tür nach, und aus dem Innern strömte verbrauchte, von muffiger Feuchtigkeit verpestete Luft. Ich stieß die Tür auf zu einem Korridor, der sich im Schwarzen verlor. Staubkringel hingen wie Hexenhaar von den Ecken an der Decke. Auf den gesprungenen Bodenfliesen lag eine Aschenschicht. Ich sah, daß Fußabdrücke in die Wohnung hineinführten.
»Heilige Muttergottes«, murmelte die Pförtnerin. »Hier gibt’s mehr Scheiße als auf einer Hühnerleiter.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, geh ich schon mal allein hinein«, schlug ich vor.
»Das würde Ihnen so passen. Los, gehen Sie voran, ich folge Ihnen.«
Wir schlossen die Tür hinter uns. Einen Augenblick lang, bis sich die Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, blieben wir an der Schwelle stehen. Ich hörte den nervösen Atem der Pförtnerin und roch ihren sauren Schweiß. Ich fühlte mich wie ein Grabschänder, das Herz von Habsucht zernagt.
»Hören Sie, was ist denn das für ein Geräusch?« fragte die Pförtnerin unruhig.
Im Dunkeln hört man aufgeschrecktes Flügelschlagen. Am Ende des Korridors glaubte ich ein blasses Etwas flattern zu sehen.
»Tauben«, sagte ich. »Sie müssen durch eine zerbrochene Fensterscheibe eingedrungen sein und hier genistet haben.«
»Also mich ekeln diese Mistvögel an. Was die sich zusammenscheißen.«
»Ganz ruhig, Doña Aurora, sie greifen nur an, wenn sie hungrig sind.«
Wir gingen einige Schritte weiter bis zum Ende des Korridors und gelangten in ein Eßzimmer mit einem Balkon. Man erkannte die Konturen eines wackligen Tischs, auf dem ein fadenscheiniges Tischtuch lag. Darum herum standen vier Stühle und dahinter zwei schmutzverschleierte Vitrinen, die das Geschirr hüteten, eine Sammlung Gläser und ein Teeservice. In einer Ecke stand noch Madame Carax’ altes Klavier. Weiße und schwarze Tasten waren kaum mehr zu unterscheiden, und unter dem Staub verschwanden die Fugen. Vor der Balkontür bleichte ein Sessel mit abgeschabtem Behang vor sich hin. Daneben ein Kaffeetisch, auf dem eine Lesebrille und eine in helles Leder gebundene Bibel mit Goldschnitt lagen, wie sie damals zur Erstkommunion geschenkt wurden. Sie bewahrte noch das Lesezeichen, ein paar Fasern eines scharlachroten Bändels.
»Schauen Sie, auf diesem Sessel hat man den toten Alten gefunden. Der Arzt sagte, er hätte schon zwei Tage so dagesessen. Wie traurig, auf diese Weise zu sterben, einsam wie ein Hund. Dabei hat er es so gewollt, aber trotzdem, mir tut er leid.«
Ich trat zu Señor Fortunys Totensessel. Neben der Bibel stand ein kleines Kästchen mit Schwarzweißfotos, alte Studioaufnahmen. Ich kniete nieder, um sie zu studieren, getraute mich aber kaum, sie zu berühren, doch die Neugier war stärker. Das erste Foto zeigte ein junges Paar mit einem Knaben, der nicht älter war als vier Jahre. Ich erkannte ihn an den Augen.
»Da haben Sie sie. Señor Fortuny als junger Mann und sie …«
»Hatte Julián keine Brüder oder Schwestern?«
Seufzend zuckte die Pförtnerin die Schultern.
»Man hat gemunkelt, sie habe ein Kind verloren, nachdem der Mann sie wieder einmal geprügelt hatte, aber ich weiß nicht. Die Leute klatschen ja gern. Einmal hat Julián den Kindern, die im Haus wohnten, erzählt, er hätte eine Schwester, die könnte nur er sehen und die würde wie Dampf aus den Spiegeln kommen und beim Satan persönlich in einem Palast unter einem See wohnen. Meine Isabelita hatte einen ganzen Monat Alpträume. Also manchmal war dieser Junge wirklich krankhaft.«
Ich warf einen Blick in die Küche. Die Scheibe eines kleinen Fensters zum Lichtschacht war zerbrochen, und auf der andern Seite hörte man das nervöse, feindselige Flattern der Tauben.
»Haben alle Wohnungen dieselbe Anordnung?« fragte ich.
»Diejenigen zur Straße hin, also jeweils die zweite Tür, ja, aber die
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