Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
anbrachten, deren Sinn von der Zeit verweht worden war. Zuhinterst in der Konsole ließen sich ein Stoß Hefte und ein Behälter mit Bleistiften und Federn ausmachen. Ich ergriff eins der Hefte und blätterte es durch. Zeichnungen und einzelne Worte. Rechenübungen. Lose Sätze, Zitate aus Büchern, unvollendete Verse. Alle Hefte sahen sich gleich. Einige Zeichnungen wiederholten sich Seite um Seite mit unterschiedlichen Details. Eine männliche Gestalt fiel mir auf, die aus Flammen zu bestehen schien. Eine andere zeigte etwas wie einen Engel oder ein um ein Kreuz gerolltes Reptil. Man konnte Skizzen eines alten, wunderlich aussehenden Hauses erahnen, das mit festungsähnlichen Türmen und Kathedralbögen gefügt war. Der junge Carax offenbarte den kräftigen Strich eines instinktsicheren, recht talentierten Zeichners, obwohl sämtliche Bilder Skizzen geblieben waren.
Eben wollte ich das letzte Heft unbesehen zurücklegen, da glitt etwas zwischen seinen Seiten heraus und fiel mir zu Füßen. Es war ein Foto, auf dem ich dasselbe junge Mädchen erkannte wie auf dem versengten, vor dem wunderlichen Haus aufgenommenen Bild. Sie posierte in einem üppig wuchernden Garten, und durch die Baumkronen hindurch erriet man die Form des Hauses, das ich eben auf den Skizzen des halbwüchsigen Carax gesehen hatte. Ich erkannte es sogleich – die Villa El Frare Blanc, Der weiße Mönch, in der Avenida del Tibidabo. Auf der Rückseite des Fotos standen die schlichten Worte:
In Liebe, Penélope
Ich steckte das Foto in die Tasche, schloß den Schreibtisch und lächelte der Pförtnerin zu.
»Gesehen?« fragte sie, begierig, hier zu verschwinden.
»Fast. Vorhin haben Sie mir erzählt, kurz nach Juliáns Abreise nach Paris sei ein Brief für ihn gekommen, aber sein Vater habe Ihnen gesagt, Sie sollen ihn wegwerfen.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann nickte sie.
»Den habe ich in die Kommodenschublade in der Diele gelegt, falls die Französin eines Tages zurückkäme. Dort wird er noch sein.«
Wir gingen zur Kommode und zogen die oberste Schublade auf. Zwischen einer Sammlung von stehengebliebenen Uhren, Knöpfen und vor zwanzig Jahren außer Kurs gesetzten Münzen lag ein ockerfarbener Umschlag.
»Haben Sie ihn gelesen?«
»Ich bitte Sie, wofür halten Sie mich?«
»Seien Sie nicht beleidigt. Unter diesen Umständen wäre das das Natürlichste, wo Sie doch dachten, der arme Julián sei gestorben …«
Sie zuckte die Achseln, senkte die Augen und zog sich zur Tür zurück. Diesen Moment nutzte ich, um den Brief in die Innentasche des Jacketts zu stecken und die Schublade wieder zuzuschieben.
»Sie dürfen nicht auf falsche Gedanken kommen«, sagte die Pförtnerin.
»Natürlich nicht. Was steht denn in dem Brief?«
»Es ist ein Liebesbrief. Wie im Radio, aber trauriger, viel trauriger, er klang wie echt. Beim Lesen hätte ich am liebsten geweint.«
»Sie haben ein goldenes Herz, Doña Aurora.« »Und Sie sind ein Teufel.«
Gleich am selben Nachmittag, nachdem ich mich von Doña Aurora verabschiedet und ihr versprochen hatte, sie von meinen Nachforschungen über Julián Carax zu unterrichten, suchte ich den Liegenschaftenverwalter auf. Señor Molins hatte bessere Zeiten gesehen und schmorte jetzt in seinem schmierigen, in einem Hochparterre der Calle Floridablanca versteckten Büro vor sich hin. Er war ein heiterer, zufriedener Zeitgenosse, der an einer halb aufgerauchten Zigarre hing, welche seinem Schnurrbart zu entwachsen schien. Es ließ sich schwer sagen, ob er schlief oder wach war, sein Atem klang wie ein Schnarchen. Er hatte fettige, auf die Stirn geklatschte Haare und einen durchtriebenen Schweineblick. Sein Anzug hätte ihm auf dem Trödelmarkt Los Encantes keine zehn Peseten eingebracht, aber er kompensierte ihn mit einer Krawatte in schreienden Farben. Nach dem Aussehen des Büros zu schließen, wurden hier bestenfalls Spitzmäuse und Katakomben eines Barcelona vor der Restauration verwaltet.
»Wir sind im Umbau«, sagte Molins entschuldigend. Um das Eis zu brechen, ließ ich den Namen von Doña Aurora fallen, als wäre sie eine alte Freundin der Familie. »Oh, die war als junges Mädchen sehr attraktiv, doch doch«, bemerkte Molins. »Mit den Jahren ist sie ein wenig aus dem Leim gegangen – natürlich bin auch ich nicht mehr, was ich einmal war. Ob Sie es glauben oder nicht, in Ihrem Alter war ich ein Adonis. Die Mädchen gingen vor mir auf die Knie, damit ich Ihnen einen Gefallen tat, wenn nicht gar ein Kind machte.
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