Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
wert wie dein Bruder oder du. Und wenn ich dich beleidigt habe, dann aus Neid auf diesen Idioten, der dein Freund ist, und aus Wut über den Gedanken, daß jemand wie du nach El Ferrol oder in den Kongo geht, um ihm nachzufolgen.«
»Daniel …«
»Du irrst dich in mir, denn wir können wirklich Freunde sein, wenn du es mich versuchen läßt, jetzt, wo du weißt, wie wenig ich wert bin. Und du irrst dich auch mit Barcelona, denn obwohl du meinst, du kennst es, garantiere ich dir, daß es nicht so ist und daß ich es dir beweisen werde, wenn du mich läßt.«
Ich sah, wie sie zu lächeln begann.
»Du sagst besser die Wahrheit«, sagte sie. »Weil ich es sonst meinem Bruder sage, und der wird dir den Kopf rausziehen wie einen Korken.«
Ich streckte ihr die Hand entgegen.
»Finde ich richtig. Freunde?«
Sie reichte mir die ihre.
»Wann hast du am Freitag aus?« fragte ich.
Sie zögerte einen Augenblick.
»Um fünf.«
»Ich werde Punkt fünf im Kreuzgang auf dich warten, und bevor es dunkel wird, werde ich dir beweisen, daß es in Barcelona etwas gibt, was du noch nicht kennst, und daß du nicht mit diesem Schwachkopf nach El Ferrol gehen kannst, von dem ich mir nicht vorstellen kann, daß du ihn liebst, denn wenn du es tust, wird dich die Stadt verfolgen, und du wirst vor Gram sterben.«
»Du scheinst ja sehr selbstsicher, Daniel.«
Ich, der ich nie auch nur sicher war, wie spät es war, nickte in der Gewißheit des Ignoranten. Ich blieb stehen und sah sie durch diese endlose Galerie davongehen, bis ihre Gestalt mit dem Halbdunkel verschmolz und ich mich fragte, was ich da eigentlich getan hatte.
2
Der Hutladen Fortuny oder das, was von ihm übrig war, moderte im Erdgeschoß eines schmalen, ruß geschwärzten, elend aussehenden Hauses in der Ronda de San Antonio neben der Plaza de Goya vor sich hin. Noch waren die in die verschmutzte Schaufensterscheibe gravierten Buchstaben zu lesen, und an der Fassade bewegte sich im Wind ein Schild in Form einer Melone, das maßgeschneiderte Modelle und die letzten Neuheiten aus Paris verhieß. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß gesichert, das wenigstens zehn Jahre da zu hängen schien. Ich drückte die Stirn ans Glas, um das Dunkel des Raums zu durchdringen.
»Wenn Sie wegen der Vermietung kommen, kommen Sie zu spät«, sagte eine Stimme hinter mir. »Der Liegenschaftenverwalter ist schon gegangen.«
Die Frau, die mich angesprochen hatte, mußte um die sechzig sein und trug die nationale Uniform frommer Witwen. Unter einem rosa Kopftuch lugten zwei Lockenwickler hervor, und die wattierten Pantoffeln paßten zu den fleischfarbenen, bis knapp unters Knie reichenden Strümpfen. Ich war mir fast sicher, daß sie die Pförtnerin des Hauses war.
»Ist der Laden denn zu mieten?« fragte ich.
»Sind Sie etwa nicht deswegen gekommen?«
»Eigentlich nicht, aber man kann nie wissen, vielleicht interessiert es mich.«
Sie runzelte die Stirn, während sie überlegte, ob sie mich für einen Windbeutel halten oder mir die Wohltat des Zweifels gewähren sollte. Ich setzte mein engelhaftestes Lächeln auf.
»Ist der Laden schon lange geschlossen?«
»Wenigstens zwölf Jahre, seit der Alte gestorben ist.« »Señor Fortuny? Haben Sie ihn gekannt?«
»Ich wohne seit achtundvierzig Jahren in diesem Haus, junger Mann.«
»Dann haben Sie vielleicht auch Señor Fortunys Sohn gekannt.«
»Julián? Und ob.«
Ich zog das versengte Foto aus der Tasche und zeigte es ihr.
»Glauben Sie, Sie können mir sagen, ob der junge Mann auf dem Foto da Julián Carax ist?«
Die Pförtnerin schaute mich leicht mißtrauisch an. Sie ergriff das Bild und starrte darauf.
»Erkennen Sie ihn?«
»Carax war der Mädchenname der Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll. »Doch, das ist Julián. Ich habe ihn sehr blond in Erinnerung, aber hier auf dem Foto hat er anscheinend dunklere Haare.«
»Könnten Sie mir sagen, wer das Mädchen neben ihm ist?«
»Und wer möchte das wissen?«
»Verzeihen Sie, mein Name ist Daniel Sempere. Ich versuche etwas über Señor Carax herauszufinden, Julián Carax.«
»Julián ist nach Paris gegangen, im Jahr 18 oder 19. Sein Vater wollte ihn in die Armee stecken, wissen Sie. Ich glaube, die Mutter hat ihn mitgenommen, um ihn davon zu befreien. Señor Fortuny ist allein hier zurückgeblieben, in der Dachgeschoßwohnung.«
»Wissen Sie, ob Julián wieder einmal nach Barcelona gekommen ist?«
Sie schaute mich einen Moment schweigend an. Dann sagte sie:
»Wissen Sie das nicht? Julián ist noch im
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