Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Aber die von heute taugen nichts. Na gut, was kann ich für Sie tun, junger Mann?« Ich tischte ihm eine mehr oder weniger plausible Geschichte über eine angebliche entfernte Verwandtschaft mit den Fortunys auf. Nach fünf Minuten Geschwätz schleppte sich Molins zu seinem Archiv und gab mir die Adresse des Anwalts, der sich um die Angelegenheiten von Sophie Carax, Juliáns Mutter, kümmerte.
»Also … José María Requejo. Calle León XIII 59. Aber die Korrespondenz schicken wir halbjährlich in ein Fach des Hauptpostamts in der Vía Layetana.«
»Kennen Sie Señor Requejo?«
»Ich habe bestimmt schon mit seiner Sekretärin telefoniert. Aber alle laufenden Angelegenheiten mit ihm werden postalisch abgewickelt, und das erledigt meine Sekretärin, die heute beim Friseur ist. Die heutigen Anwälte haben keine Zeit mehr für den förmlichen Umgang von einst. In diesem Beruf gibt es keine Gentlemen mehr.«
Anscheinend gab es auch keine zuverlässigen Adressen mehr. Ein rascher Blick ins Straßenverzeichnis, das auf dem Schreibtisch des Verwalters lag, bestätigte meinen Verdacht: Die Hausnummer des mutmaßlichen Anwalts Requejo existierte nicht. Das teilte ich Señor Molins mit, der die Mitteilung wie einen Witz aufnahm.
»Donnerwetter«, lachte er. »Na, was hab ich Ihnen gesagt? Alles Gauner.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab wieder einen Schnarcher von sich.
»Hätten Sie vielleicht die Nummer dieses Postfachs?« »Laut Karteikarte ist es die 2837, aber ich kann die Zahlen meiner Sekretärin nicht entziffern, Sie wissen ja, für die Mathematik taugen Frauen nicht, dafür taugen sie für …«
»Darf ich die Karte sehen?«
»Aber sicher. Hier bitte.«
Ich betrachtete sie. Die Zahlen waren absolut leserlich.
Das Postfach trug die Nummer 2321 … »Haben Sie oft mit Señor Fortuny zu tun gehabt, als er noch lebte?« fragte ich.
»Nur obenhin. Ein sehr zurückhaltender Mann. Ich erinnere mich, daß ich ihn, nachdem ich erfahren hatte, daß die Französin gegangen war, einmal aufgefordert habe, mit ein paar Kollegen ins Bordell mitzukommen, in ein fabelhaftes Etablissement, das ich neben dem La Paloma kenne. Bloß damit er sich ein wenig aufheitern konnte, nichts weiter. Da hörte der doch tatsächlich auf, mit mir zu sprechen und mich auf der Straße zu grüßen, als wäre ich unsichtbar. Wie finden Sie das?«
»Ich bin ganz baff. Was können Sie mir sonst noch über die Familie Fortuny erzählen? Erinnern Sie sich gut an sie?«
»Das waren andere Zeiten. Jedenfalls habe ich schon den Großvater Fortuny gekannt, der den Hutladen gegründet hat. Was soll ich Ihnen vom Sohn erzählen? Aber sie, doch doch, sie war toll. Was für eine Frau. Und ehrbar, nicht wahr, trotz dem ganzen Gemunkel und Geschwätz …«
»Zum Beispiel, daß Julián nicht der eheliche Sohn Señor Fortunys war?«
»Wo haben Sie denn das aufgeschnappt?«
»Wie gesagt, ich gehöre zur Familie. Da erfährt man alles.«
»Von alldem ist nie etwas bewiesen worden.«
»Aber man hat darüber geredet.«
»Die Leute wetzen den Schnabel nach Herzenslust. Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern vom Huhn.« »Was haben die Leute denn gesagt?«
»Möchten Sie ein Gläschen Rum? Er ist zwar von Igualada, aber er hat ein Fünkchen Karibik … Schmeckt herrlich.«
»Nein, danke, aber ich leiste Ihnen Gesellschaft.
Erzählen Sie mir unterdessen weiter.«
… Antoni Fortuny, den alle den Hutmacher nannten, hatte Sophie Carax 1899 vor den Stufen der Kathedrale von Barcelona kennengelernt. Eben hatte er dem heiligen Eustachius ein Gelübde abgelegt, der im Rufe stand, von allen Heiligen mit eigener Kapelle der flinkste und am wenigsten zimperliche zu sein, wenn es darum ging, Liebeswunder zu wirken. Antoni Fortuny, schon über dreißig und des Junggesellendaseins müde, wollte eine Gattin, und er wollte sie gleich. Sophie war eine junge Französin, die in einem Wohnheim für junge Frauen in der Calle Riera Alta lebte und den Sprößlingen der privilegiertesten Barceloneser Familien Privatunterricht in Gesang und Klavier erteilte. Sie hatte weder Familie noch Vermögen, nur gerade ihre Jugend und die musikalische Ausbildung, die ihr der Vater, ein Pianist an einem Theater in Nîmes, noch hatte geben können, bevor er 1886 an Tuberkulose starb. Antoni Fortuny dagegen war ein Mann auf dem Weg zum Wohlstand. Kurz zuvor hatte er von seinem Vater das Geschäft geerbt, einen renommierten Hutladen in der Ronda San Antonio, wo er das Handwerk erlernt hatte,
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