Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Gegenwart. Gott, in seiner unendlichen Weisheit und vielleicht überhäuft vom Ansturm von Bitten so vieler gequälter Seelen, gab keine Antwort. Während Antoni Fortuny in Gewissensbissen und Kümmernis zerfloß, erlosch Sophie langsam auf der andern Seite der Wand und sah ihr Leben in einem Strudel von Betrug, Verlassenheit und Schuld Schiffbruch erleiden. Sie liebte den Mann nicht, dem sie diente, aber sie fühlte sich ihm zugehörig, und die Möglichkeit, ihn zu verlassen und mit ihrem Sohn anderswohin zu gehen, schien ihr undenkbar. Bitter erinnerte sie sich an Juliáns richtigen Vater, und mit der Zeit lernte sie ihn hassen und alles verachten, was er vorstellte, doch war es genau das, wonach sie sich im Grunde sehnte. Da es an Gesprächen fehlte, begann sich das Ehepaar anzuschreien. Beschimpfungen und scharfe Vorwürfe flogen wie Messer durch die Wohnung und durchlöcherten jeden, der sich in den Weg zu stellen wagte, üblicherweise Julián. Später erinnerte sich der Hutmacher nie genau, warum er seine Frau geschlagen hatte, sondern nur an das Aufbranden und die Scham danach. Dann schwor er sich, das würde nie wieder vorkommen und wenn nötig würde er sich den Behörden stellen, damit man ihn in die Strafanstalt verbanne.
Mit Gottes Hilfe wiegte sich Antoni Fortuny in der Gewißheit, daß er ein besserer Mann werden könne, als es sein Vater gewesen war. Doch über kurz oder lang landeten seine Fäuste wiederum in Sophies zartem Fleisch, und mit der Zeit spürte er, daß er, wenn er sie nicht als Ehemann besitzen konnte, es als Henker tun würde. So ließ die Familie Fortuny die Jahre verstreichen, brachte ihre Herzen und Seelen zum Verstummen, bis sie alle vor lauter Schweigen die Worte vergessen hatten, um ihre wirklichen Gefühle auszudrücken, und einander zu Fremden wurden, die unter ein und demselben Dach zusammenlebten.
Ich war erst nach halb drei wieder in der Buchhandlung. Als ich eintrat, warf mir Fermín vom oberen Ende einer Leiter einen sarkastischen Blick zu, wo er den Nationalen Episoden unseres berühmten Benito Pérez Galdós Glanz verlieh.
»Wie freue ich mich, Sie zu sehen. Wir dachten schon, Sie seien nach Amerika gefahren, um dort Ihr Glück zu machen, Daniel.«
»Ich bin unterwegs aufgehalten worden. Wo ist mein Vater?«
»Da Sie nicht gekommen sind, hat er sich aufgemacht, um die restlichen Bestellungen abzuliefern. Ich soll Ihnen sagen, daß er diesen Nachmittag nach Tiana geht, um die Privatbibliothek einer Witwe zu schätzen. Ihr Vater gehört zu denen, die die Dinge erledigen, ohne große Worte zu machen. Sie sollen nicht auf ihn warten, um zu schließen.«
»War er böse auf mich?«
Fermín schüttelte den Kopf, während er katzenflink die Leiter herunterglitt.
»Keine Spur. Ihr Vater ist ein Heiliger. Zudem hat er sich sehr gefreut, als er sah, daß Sie sich eine Freundin zugelegt haben.«
»Was?«
Fermín blinzelte und leckte sich die Lippen.
»Oh, Sie Spitzbube, und das haben Sie einfach für sich behalten. Was für ein Mädchen – um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Und so was von elegant. Man sieht, daß sie gute Schulen besucht hat, aber da ist auch eine gewisse Einladung in ihrem Blick … Ich sage Ihnen, wenn ich mein Herz nicht an die Bernarda verloren hätte – ich hab Ihnen ja noch nicht einmal erzählt, wie das neulich war mit dem Nachmittagskaffee … Da haben die Funken gesprüht, sag ich Ihnen, die Funken, als wär’s das Feuerwerk zum Sonnenwendfest …«
»Fermín«, unterbrach ich ihn, »wovon zum Teufel reden Sie?«
»Von Ihrer Freundin.«
»Ich habe keine Freundin.«
»Na ja, ihr jungen Leute nennt das ja jetzt anders, Bekannte oder so …«
»Fermín, von vorne, bitte. Wovon reden Sie?«
Fermín Romero de Torres schaute mich verwirrt an. »Nun – heute mittag, vor einer Stunde oder anderthalb, ist eine klasse Señorita in den Laden gekommen und hat nach Ihnen gefragt. Ihr Vater und meine Wenigkeit waren lebendigen Leibes anwesend, und ich kann Ihnen zweifelsfrei versichern, daß das Mädchen keineswegs wie ein Gespenst aussah. Ich könnte Ihnen sogar Ihren Geruch beschreiben. Nach Lavendel, aber süßer. Wie ein frisch gebackenes Milchbrötchen.«
»Hat das Milchbrötchen etwa gesagt, es sei meine Freundin?«
»Nicht mit genau diesen Worten, aber sie hat so beiläufig gelächelt, Sie wissen schon, und gesagt, sie erwartet Sie am Freitagnachmittag. Wir haben bloß zwei und zwei zusammengezählt.«
»Bea«, murmelte ich.
»Ergo gibt es sie
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