Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
gehört. Seit vor dem Krieg.«
»Hat er Ihnen gegenüber einmal den Namen Nuria Monfort erwähnt?«
»Nein, nie. Und auch nichts von einer Heirat oder daß er eine Freundin hatte … Hören Sie, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich Ihnen das alles erzählen darf. Das sind Dinge, die mir Julián und Miquel unter vier Augen mitgeteilt haben, im stillen Einverständnis, daß sie unter uns bleiben würden …«
»Wollen Sie einem Sohn die einzige Möglichkeit versagen, die Erinnerung an seinen Vater wiederzuerlangen?« fragte Fermín.
Pater Fernando schien zwischen dem Zweifel und, wie mir schien, dem Wunsch nach Erinnerung hin und her gerissen, danach, diese verlorenen Tage Wiederaufleben zu lassen.
»Vermutlich sind so viele Jahre vergangen, daß es keine Rolle mehr spielt. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Julián uns erklärt hat, wie er die Aldayas kennengelernt und wie das unmerklich sein Leben verändert hatte …«
… An einem Oktobernachmittag des Jahres 1914 machte vor dem Hutladen Fortuny in der Ronda de San Antonio ein Objekt halt, das viele für eine rollende Familiengruft hielten. Ihm entstieg die majestätisch-arrogante Gestalt Don Ricardo Aldayas, schon damals einer der reichsten Männer nicht nur Barcelonas, sondern Spaniens, dessen Textilindustrieimperium sich in Zitadellen und Kolonien längs der Flüsse von ganz Katalonien hinzog. Seine Rechte hielt die Zügel des Bankwesens und Grundbesitzes der halben Provinz, während die Linke unermüdlich die Fäden von Abgeordnetenversammlung, Rathaus, mehreren Ministerien, Bistum und Hafenzollbehörden zog.
An diesem Nachmittag benötigte das jedermann einschüchternde, entblößte Haupt mit dem üppigen Schnurr- und dem königlichen Backenbart einen Hut. Aldaya trat in Antoni Fortunys Laden, und nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung geworfen hatte, schaute er aus dem Augenwinkel den Hutmacher und seinen Gehilfen, den jungen Julián, an und sprach folgendes: »Wie ich höre, kommen von hier entgegen jedem Anschein die besten Hüte Barcelonas. Der Oktober sieht übel aus, und ich werde sechs Zylinder, ein Dutzend Melonen und mehrere Jagdmützen brauchen sowie etwas, was ich im Parlament in Madrid tragen kann. Schreiben Sie es sich auf, oder muß ich es Ihnen wiederholen?« Das war der Beginn eines langwierigen – und lukrativen – Prozesses, in dem Vater und Sohn mit vereinten Kräften Don Ricardo Aldayas Bestellung anfertigten. Julián, der die Zeitung zu lesen pflegte, wußte um Aldayas Stellung und sagte sich, er könne seinen Vater jetzt, im entscheidenden Moment seines Geschäfts, nicht im Stich lassen. Seit der Potentat seinen Laden betreten hatte, schwebte der Hutmacher vor Wonne. Aldaya hatte versprochen, wenn er an der Ausführung Gefallen finde, werde er den Laden in seinem ganzen Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das bedeutete, daß der Hutladen Fortuny vom ehrbaren, aber bescheidenen Geschäft den Sprung in die höchsten Kreise machen und groß- und kleinköpfige Abgeordnete, Bürgermeister, Kardinäle und Minister behuten würde. Die Tage dieser Woche vergingen wie im Traum. Julián blieb der Schule fern und arbeitete achtzehn und zwanzig Stunden täglich im Atelier hinter dem Laden. Ganz begeistert umarmte ihn sein Vater ab und zu und küßte ihn sogar, ohne es zu merken. Ja er schenkte seiner Frau Sophie zum ersten Mal in vierzehn Jahren ein Kleid und ein Paar neue Schuhe. Der Hutmacher war nicht wiederzuerkennen. Am Sonntag vergaß er, zur Messe zu gehen, und am selben Nachmittag schloß er Julián mit stolzgeschwellter Brust in die Arme und sagte mit Tränen in den Augen zu ihm: »Großvater wäre stolz auf uns.«
Einer der technisch und politisch schwierigsten Prozesse in der verschwundenen Wissenschaft der Hutmacherei war das Maßnehmen. Laut Julián war Don Ricardo Aldayas Schädel von bäurischer Wuchtigkeit. Der Hutmacher war sich der Schwierigkeiten bewußt, kaum hatte er das Haupt des bedeutenden Mannes zu Gesicht bekommen, und als Julián am selben Abend sagte, der Kopf erinnere ihn an gewisse Formationen des Montserratgebirges, konnte Fortuny nur zustimmen. »Vater, mit allem Respekt, Sie wissen, daß ich beim Maßnehmen eine geschicktere Hand habe als Sie, da Sie nervös werden. Lassen Sie mich machen,« Der Hutmacher willigte gern ein, und als Aldaya am nächsten Tag in seinem Mercedes vorfuhr, empfing ihn Julián und führte ihn ins Atelier. Sowie Aldaya sah, daß ihm ein vierzehnjähriger Junge Maß
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