Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
dar.
»Welchen weiteren Beweis begehren Monsignore noch als dieses Antlitz, stummer, beweiskräftiger Zeuge des fraglichen Vaterschaftsakts?«
Der Priester schien zu schwanken.
»Werden Sie mir helfen, Pater?« flehte ich verschlagen.
»Bitte …«
Pater Fernando seufzte unbehaglich.
»Ich sehe nichts Böses dabei, denke ich«, sagte er schließlich.
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles«, sagte Fermín.
11
Pater Fernandos Zusammenfassung seiner Erinnerungen hatte einen gewissen Predigtton. Mit meisterhafter Knappheit konstruierte er seine stilreinen Sätze und erfüllte sie mit einem Rhythmus, der gleichsam als Zugabe eine unausgesprochene Moral einzuschließen schien. In jahrelangem Lehrerdasein hatte er sich diesen bestimmten, didaktischen Ton eines Mannes erworben, der es gewohnt ist, daß man ihn vernimmt, der sich aber fragt, ob man ihm auch zuhört.
»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, ist Julián Carax 1914 in die San-Gabriel-Schule eingetreten. Ich habe mich sogleich zu ihm hingezogen gefühlt – wir gehörten beide zu der kleinen Gruppe Schüler, die nicht aus vermögenden Familien stammten. Man hat uns das Hungerleiderkommando genannt. Jeder von uns beiden hatte seine eigene Geschichte. Ich hatte ein Stipendium für einen Platz bekommen, weil mein Vater fünfundzwanzig Jahre lang in der Küche dieses Hauses gearbeitet hatte. Julián war dank der Fürsprache von Señor Aldaya aufgenommen worden, der Kunde des Hutladens Fortuny war, welcher Juliáns Vater gehörte. Natürlich waren das andere Zeiten, damals hat sich die Macht noch in einzelnen Familien und Dynastien konzentriert. Das ist eine verschwundene Welt, deren letzte Überbleibsel die Republik weggeschwemmt hat, zum Guten vermutlich, und von ihr sind nur diese Namen im Briefkopf gesichtsloser Unternehmen, Banken und Konsortien geblieben. Wie alle alten Städte ist auch Barcelona eine Summe von Ruinen. Die großen Herrlichkeiten, deren sich viele brüsten, Paläste, Faktoreien und Monumente, Insignien, mit denen wir uns identifizieren, sind bloß noch Leichen, Reliquien einer untergegangenen Zivilisation.«
An diesem Punkt schaltete Pater Fernando eine feierliche Pause ein, als erwarte er von der Gemeinde ein paar lateinische Brocken zur Antwort.
»Ja und amen, Ehrwürden. Was für eine bedeutsame Wahrheit«, sagte Fermín, um das unangenehme Schweigen zu überbrücken.
»Sie haben uns vom ersten Jahr meines Vaters in der Schule erzählt«, bemerkte ich sanft.
Pater Fernando nickte.
»Schon damals hat er sich Carax genannt, obwohl sein erster Name Fortuny war. Anfänglich haben ihn einige Jungs deswegen gehänselt – und natürlich weil er einer des Hungerleiderkommandos war. Sie haben sich auch über mich lustig gemacht, weil ich der Sohn des Kochs war. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Im Grunde ihres Herzens hat Gott sie mit Güte erfüllt, aber sie wiederholen eben, was sie zu Hause hören.«
»Unschuldige Kinderchen«, sagte Fermín.
»Was wissen Sie noch von meinem Vater?«
»Nun, das ist schon so lange her … Der beste Freund Ihres Vaters war damals nicht Jorge Aldaya, sondern ein Junge namens Miquel Moliner. Miquel kam aus einer fast so reichen Familie wie die Aldayas, und ich würde mich zu der Aussage versteigen, er sei der verrückteste Schüler gewesen, den man hier je gesehen hat. Der Rektor glaubte, er sei vom Teufel besessen, weil er während der Messe immer Marx auf deutsch rezitiert hat.«
»Eindeutiges Zeichen von Besessenheit«, bestätigte Fermín.
»Miquel und Julián haben sich gut verstanden. Manchmal haben wir uns in der Mittagspause zu dritt getroffen, und Julián hat uns Geschichten erzählt. Andere Male hat er von seiner Familie und den Aldayas berichtet …«
Der Priester schien zu zögern.
»Auch nach dem Verlassen der Schule sind Miquel und ich noch eine Zeitlang in Kontakt geblieben. Damals war Julián bereits nach Paris gegangen. Ich weiß, daß sich Miquel nach ihm gesehnt hat, und oft hat er von ihm gesprochen und sich an Geheimnisse erinnert, die Julián ihm vor Zeiten anvertraut hatte. Als ich dann ins Priesterseminar ging, sagte Miquel, ich sei zum Feind übergetreten. Das war zwar scherzhaft gemeint, aber Tatsache ist, daß wir uns auseinandergelebt haben.«
»Haben Sie davon gehört, daß Miquel eine gewisse Nuria Monfort geheiratet hat?«
»Miquel, geheiratet?«
»Erstaunt Sie das?«
»Vermutlich sollte es nicht, aber … Ich weiß nicht. Ich habe wirklich seit vielen Jahren nichts mehr von ihm
Weitere Kostenlose Bücher