Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
ihm entfernt war. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, und winkte ihm zu. Es war kalt, und der Wind roch nach Kalk und Schwefel.
»Sporadische Besucher meinen naiverweise, in dieser Stadt sei es immer sonnig und heiß«, sagte der Patron. »Aber ich sage immer, über kurz oder lang wird sich Barcelonas alte, trübe, dunkle Seele am Himmel widerspiegeln.«
»Sie sollten Reiseführer herausgeben statt religiöse Texte«, empfahl ich.
»Das läuft auf dasselbe hinaus. Wie waren denn diese friedlichen, ruhigen Tage? Sind Sie mit der Arbeit vorangekommen? Haben Sie gute Nachrichten für mich?«
Ich knöpfte das Jackett auf und reichte ihm ein Bündel Seiten. Wir gingen in den Friedhof hinein, um uns irgendwo unterzustellen. Der Patron wählte ein altes Mausoleum mit einer Kuppel auf Marmorsäulen, umgeben von Engeln mit schmalen Gesichtern und zu langen Fingern. Wir setzten uns auf eine kalte Steinbank. Der Patron schenkte mir sein hündisches Lächeln und zwinkerte mir zu. Seine glänzenden gelben Pupillen schlossen sich zu einem schwarzen Punkt, in dem ich mein blasses, sichtlich unruhiges Gesicht gespiegelt sah.
»Entspannen Sie sich, Martín. Sie messen den Requisiten zu viel Bedeutung bei.«
Ruhig begann er die Seiten zu lesen, die ich ihm mitgebracht hatte.
»Ich glaube, ich mache einen Spaziergang, während Sie lesen«, sagte ich.
Corelli nickte, ohne von den Seiten aufzuschauen.
»Entwischen Sie mir nicht«, murmelte er.
Ich entfernte mich, so schnell ich konnte, ohne dass es auffiel, und verlor mich auf den Wegen und in den Winkeln der Totenstadt. Ich ging um Obelisken und Gräber herum und gelangte allmählich ins Zentrum. Der Grabstein war noch da, davor ein Gefäß mit einem Skelett vertrockneter Blumen. Vidal war für die Beerdigung aufgekommen und hatte sogar einen einigermaßen bekannten Bildhauer der Bestattungszunft mit einer Pietà beauftragt, die das Grab behütete, den Blick himmelwärts gewandt, die Hände flehentlich auf der Brust. Ich kniete mich vor den Grabstein und schabte das Moos von der eingemeißelten Inschrift.
José Antonio Martín Clarés
1875-1908
Held des Philippinenkrieges
Sein Land und seine Freunde werden ihn nie vergessen
»Guten Tag, Vater«, sagte ich.
Ich schaute zu, wie der schwarze Regen über das Gesicht der Pietà rann und auf den Grabstein trommelte, und lächelte zum Gruß dieser Freunde, die er nie gehabt hatte, und dieses Landes, das ihn in den Tod geschickt hatte, damit sich ein paar Bonzen bereichern konnten, die nie erfuhren, dass es ihn überhaupt gab. Ich setzte mich auf den Stein und legte die Hand auf den Marmor.
»Wer hätte das gedacht, nicht wahr?«
Mein Vater, der stets am Rande des Elends gelebt hatte, ruhte auf immer in einem bürgerlichen Grab. Als Kind hatte ich nie begriffen, warum ihm die Zeitung eine Beerdigung mit einem vornehmen Geistlichen und Klageweibern, mit Blumen und einem Grab wie für einen Zuckerimporteur bezahlt hatte. Niemand hatte mir gesagt, dass Vidal es war, der den Prunk für den Mann finanziert hatte, welcher an seiner Stelle gestorben war, dabei hatte ich immer geahnt, dass er dafür aufgekommen war, und hatte die Geste der unendlichen Güte und Großzügigkeit zugeschrieben, mit der der Himmel meinen Mentor, mein Idol gesegnet hatte, den großen Pedro Vidal.
»Ich muss Sie um Verzeihung bitten, Vater. Jahrelang habe ich Sie gehasst, weil Sie mich allein hier zurückgelassen haben. Ich sagte mir, Sie hätten den Tod gefunden, den Sie immer wollten. Darum habe ich Sie nie besucht. Vergeben Sie mir.«
Mein Vater hatte Tränen nicht gemocht. Er dachte, ein Mann, der weine, vergieße seine Tränen nie um andere, sondern nur für sich selbst. Und dann sei er schwach und verdiene kein Mitleid. Ich mochte nicht um ihn weinen und ihn noch einmal verraten.
»Es wäre schön gewesen, wenn Sie meinen Namen auf einem Buch gesehen hätten, auch wenn Sie es nicht hätten lesen können. Es wäre schön gewesen, wenn Sie hier gewesen wären, bei mir, um zu sehen, dass Ihr Sohn sich durchgesetzt und einige der Dinge erreicht hat, die man Sie nie hatte tun lassen. Es wäre schön gewesen, zu wissen, wer Sie waren, Vater, und es wäre schön gewesen, wenn Sie mich gekannt hätten. Um Sie zu vergessen, habe ich Sie zu einem Fremden gemacht, und jetzt bin ich selbst der Fremde.«
Ich hatte ihn nicht kommen hören, aber als ich den Kopf hob, sah ich, dass mich der Patron aus wenigen Meter Abstand schweigend
Weitere Kostenlose Bücher