Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
seiner Gegenwart und vor allem vor mir selbst.
Der Patron drehte sich um und kam zurück. Wenige Zentimeter von mir blieb er stehen und beugte sein Gesicht über meines. Ich spürte seinen kalten Atem und verlor mich in seinen bodenlosen schwarzen Augen. Diesmal war der Ton seiner Stimme reines Eis, frei von der zweckmäßigen, einstudierten Menschlichkeit, mit der er seine Gespräche und Gebärden zu garnieren pflegte.
»Ich werde es Ihnen nur ein einziges Mal sagen. Sie werden Ihren Teil erfüllen und ich den meinen. Das ist das Einzige, was Sie fühlen können und sollen.«
Erst als er das Bündel Seiten aus der Tasche zog, wurde mir bewusst, dass ich wiederholt nickte. Bevor ich die Seiten ergreifen konnte, ließ er sie fallen. Der Wind wirbelte die Blätter weg, und ich sah, wie sie sich zum Friedhofstor hin zerstreuten. Ich wollte sie vor dem Regen retten, aber einige waren in Pfützen gefallen und bluteten im Wasser aus – die Worte lösten sich vom Papier wie Fasern. Ich sammelte sie alle zu einem Klumpen Makulatur ein. Als ich aufschaute und mich umblickte, war der Patron verschwunden.
27
Wenn ich je bei einem vertrauten Gesicht Zuflucht finden musste, dann jetzt. Ich ging zu dem alten, sich hinter den Friedhofsmauern erhebenden Gebäude der Stimme der Industrie, in der Hoffnung, meinen alten Lehrer Don Basilio dort anzutreffen. Er war einer der wenigen gegen die Dummheit der Welt gefeiten Menschen und konnte immer mit einem guten Rat aufwarten. Beim Betreten des Zeitungsgebäudes fiel mir auf, dass ich die meisten der Beschäftigten, die mir begegneten, noch kannte. Seit meinem Weggang vor Jahren schien keine Minute vergangen zu sein. Diejenigen, die mich ebenfalls wiedererkannten, streiften mich mit einem argwöhnischen Blick und schauten dann weg, um mich nicht grüßen zu müssen. Ich schlich mich durch den Redaktionsraum und ging geradewegs nach hinten zu Don Basilios Büro. Es war leer. »Wen suchen Sie?«
Hinter mir stand Rosell, einer der Redakteure, die mir schon alt erschienen waren, als ich als junger Bursche dort gearbeitet hatte. Er hatte für die Zeitung die boshafte Kritik über Die Schritte des Himmels geschrieben, in der ich als »Verfasser von Kleinanzeigen« bezeichnet worden war.
»Señor Rosell, ich bin’s, Martín, David Martín. Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?«
Rosell musterte mich mehrere Sekunden, als könnte er mich nur mit großer Mühe wiedererkennen, und nickte schließlich.
»Und Don Basilio?«
»Der ist vor zwei Monaten gegangen. Sie finden ihn in der Redaktion der Vanguardia. Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn von mir.«
»Das werde ich tun.«
»Tut mir leid, das mit Ihrem Buch«, sagte er nachsichtig.
Zwischen ausweichenden Blicken, manch falschem Lächeln und galligem Gemurmel hindurch verließ ich die Redaktion. Die Zeit heilt alles, dachte ich, außer der Wahrheit.
Eine halbe Stunde später setzte mich ein Taxi vor dem Hauptsitz der Vanguardia in der Calle Pelayo ab. Im Gegensatz zu dem düsteren, heruntergekommenen Inventar meiner ehemaligen Zeitung strahlte hier alles Gediegenheit und Üppigkeit aus. Ich wies mich beim Pförtner aus, und ein junger Bursche, der nach Volontär aussah und mich an mich selbst in meinen jungen Jahren als Mädchen für alles erinnerte, wurde ausgesandt, Don Basilio den Besuch zu melden. Die Erscheinung meines alten Lehrers hatte im Lauf der Jahre nichts von ihrer Löwenhaftigkeit verloren. In der zu der erlesenen Umgebung passenden neuen Gewandung war Don Basilio eine so imposante Gestalt wie zu seinen besten Zeiten in der Stimme der Industrie. Bei meinem Anblick leuchteten seine Augen auf, und entgegen seinem strengen Protokoll empfing er mich mit einer Umarmung, bei der ich mühelos zwei, drei Rippen hätte einbüßen können, hätte Don Basilio vor Publikum nicht Schein und Ruf wahren müssen.
»Werden wir langsam bürgerlich, Don Basilio?«
Mein ehemaliger Chef zuckte die Schultern und spielte die Bedeutung der neuen Kulisse mit einer Handbewegung herunter.
»Lassen Sie sich nicht beeindrucken.«
»Seien Sie nicht so bescheiden, Don Basilio, da sind Sie ja in eine Schatzkammer geraten. Und machen Sie den Leuten Dampf?«
Er zog seinen unsterblichen Rotstift hervor und hielt ihn mir mit einem Augenzwinkern unter die Nase.
»Vier pro Woche.«
»Zwei weniger als in der Stimme.«
»Geben Sie mir ein wenig Zeit, da gibt’s noch so eine Eminenz, die die Flinte auf mich anlegt und meint, Cicero sei
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