Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Seite geschrieben, mit der ich zufrieden wäre. Die Frau, die ich liebe, findet, ich vertue mein Leben, und sie hat recht damit. Sie findet auch, ich habe nicht das Recht, sie zu begehren – wir seien zwei unbedeutende Seelen, deren einzige Daseinsberechtigung die Dankbarkeit sei, die wir einem Mann schuldeten, der uns beide aus dem Elend geholt habe, und vielleicht hat sie auch damit recht. Es dauert nicht mehr lange, und ich werde dreißig, und dann wird mir aufgehen, dass ich mit jedem Tag weniger dem Menschen gleiche, der ich mit fünfzehn Jahren hätte werden wollen. Falls ich diesen Geburtstag überhaupt erlebe – meine Gesundheit ist in letzter Zeit so wenig verlässlich wie meine Arbeit. Gegenwärtig muss ich zufrieden sein, wenn ich einen oder zwei lesbare Sätze pro Stunde zustande bringe. Ein solcher Autor und Mensch bin ich. Nicht einer, den Verleger aus Paris mit Blankoschecks besuchen, damit er das Buch schreibt, das sein Leben verändert und all seine Erwartungen Wirklichkeit werden lässt.«
Meine Worte abwägend, schaute mich Corelli mit ernster Miene an.
»Ich glaube, Sie sind sich selbst ein zu gestrenger Richter, eine Eigenschaft, die wertvolle Menschen auszeichnet. Glauben Sie mir, ich hatte es im Lauf meiner Karriere mit unendlich vielen Leuten zu tun, auf die Sie nicht einmal gespuckt hätten, die aber eine unglaublich hohe Meinung von sich selbst hatten. Doch es sollte ihnen klar sein, dass ich, auch wenn Sie es nicht glauben, genau weiß, was für ein Autor und Mensch Sie sind. Seit Jahren verfolge ich Ihre Schritte, das wissen Sie ja. Ich habe alles von Ihnen gelesen, von der ersten Erzählung, die Sie für Die Stimme der Industrie geschrieben haben, bis zu den Geheimnissen von Barcelona und jetzt jede einzelne Fortsetzung Ihres Ignatius B. Samson. Ich würde zu behaupten wagen, dass ich Sie besser kenne als Sie sich selbst. Darum weiß ich, dass Sie am Ende mein Angebot annehmen werden.«
»Was wissen Sie denn sonst noch?«
»Ich weiß, dass wir etwas – oder vieles – gemeinsam haben. Ich weiß, dass Sie Ihren Vater verloren haben, und ich ebenfalls. Ich weiß, was es heißt, den Vater zu verlieren, wenn man ihn noch braucht. Den Ihren hat man Ihnen unter tragischen Umständen entrissen. Meiner hat mich aus Gründen, die nichts zur Sache tun, abgelehnt und von zuhause verstoßen. Ich möchte fast sagen, dass das noch schmerzlicher sein kann. Ich weiß, dass Sie sich allein fühlen, und glauben Sie mir, auch dieses Gefühl kenne ich zutiefst. Ich weiß, dass Sie im Innersten große Erwartungen hegen, dass sich aber noch keine erfüllt haben, und ich weiß, dass Sie das, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind, jeden Tag dem Tod ein bisschen näher bringt.«
Seine Worte lösten eine lange Stille aus.
»Sie wissen vieles, Señor Corelli.«
»Genug, um zu denken, dass ich Sie gern näher kennenlernen und Ihr Freund sein würde. Und ich glaube, Sie haben nicht viele Freunde. Ich auch nicht. Ich traue den Leuten nicht, die viele Freunde zu haben glauben. Das ist ein Zeichen, dass sie die anderen nicht kennen.«
»Aber Sie suchen keinen Freund, Sie suchen einen Angestellten.«
»Ich suche einen zeitweiligen Partner. Ich suche Sie.«
»Sie sind sich Ihrer sehr sicher.«
»Das ist ein Geburtsfehler.« Corelli stand auf. »Ein anderer ist der Weitblick. Darum verstehe ich, dass es für Sie vielleicht noch zu früh ist und es Ihnen nicht genügt, die Wahrheit aus meinem Mund zu hören. Sie müssen sie mit eigenen Augen sehen können. Sie auf der Haut spüren. Und glauben Sie mir, Sie werden sie spüren.«
Er streckte mir die Hand entgegen, bis ich sie schließlich ergriff.
»Darf ich wenigstens beruhigt sein, dass Sie über meine Worte nachdenken und wir erneut miteinander sprechen werden?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Señor Corelli.«
»Sagen Sie jetzt gar nichts. Ich verspreche Ihnen, wenn wir uns nächstes Mal treffen, werden Sie alles sehr viel klarer sehen.«
Bei diesen Worten lächelte er mir herzlich zu und entfernte sich in Richtung Treppe.
»Wird es ein nächstes Mal geben?«, fragte ich.
Er blieb stehen und drehte sich um.
»Es gibt immer ein nächstes Mal.«
»Wo?«
Das letzte Licht des Tages fiel auf die Stadt, und seine Augen leuchteten wie zwei glühende Kohlen.
Er verschwand durch die Tür nach unten. Erst da wurde mir bewusst, dass ich ihn während der ganzen Unterhaltung kein einziges Mal hatte blinzeln sehen.
14
Die Arztpraxis
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