Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
führe eine gewaltlose Diktatur ein, um das Land vor der drohenden Katastrophe zu retten. Die Zeitung war mindestens sechs Jahre alt.
»Wo bin ich?«
Neugierig schaute mich der Mann über die Zeitung hinweg an.
»Im Hotel Ritz. Riechen Sie das nicht?«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Halb tot. Man hat Sie heute Morgen auf der Trage hergebracht, und seither schlafen Sie Ihren Rausch aus.«
Ich betastete mein Jackett und stellte fest, dass alles Geld, das ich bei mir gehabt hatte, verschwunden war.
»Was für eine Welt«, rief der Mann angesichts der Meldungen in seiner Zeitung. »Es zeigt sich, dass in den fortgeschrittensten Phasen der Idiotie der Ideenmangel mit Ideologieüberschuss kompensiert wird.« »Wie komme ich hier raus?«
»Wenn Sie es so eilig haben … Es gibt zwei Möglichkeiten, eine endgültige und eine vorübergehende. Die endgültige führt übers Dach: Ein kräftiger Sprung, und Sie sind diesen ganzen Mist für immer los. Der vorübergehende Weg befindet sich dort hinten, wo dieser Trottel mit der erhobenen Faust steht, dem die Hosen schlottern und der jedem, der vorbeigeht, den Revolutionsgruß vormacht. Aber wenn Sie dort hinausgehen, landen Sie über kurz oder lang wieder hier.«
Mit der Klarheit, die bei Verrückten dann und wann aufblitzt, betrachtete er mich amüsiert.
»Haben Sie mich bestohlen?«
»Schon der Zweifel ist eine Beleidigung. Als man Sie hergebracht hat, waren Sie bereits blitzblank, und ich akzeptiere nur börsennotierte Wertpapiere.«
Ich ließ den Spinner mit der alten Zeitung und den fortschrittlichen Reden auf seiner Pritsche zurück. Der Kopf drehte sich mir noch immer, und nur mit großer Mühe konnte ich ein paar Schritte geradeaus tun, aber auf der einen Seite des hohen Gewölbes schaffte ich es bis zu einer Tür, die zu einem Treppenhaus führte. Oben an der Treppe sickerte ein wenig Licht herein. Ich stieg vier, fünf Stockwerke hinauf, bis ich einen Mundvoll frische Luft erhaschte, die durch ein großes Tor am Ende der Treppe eindrang. Ich trat ins Freie hinaus und begriff endlich, wo ich gelandet war.
Hoch über der Hauptallee des Ciudadela-Parks erstreckte sich vor mir ein künstlicher See. Über der Stadt ging langsam die Sonne unter, und das algenbedeckte Wasser kräuselte sich im Wind. Der Wasserspeicher glich einer wuchtigen Burg oder einem Gefängnis. Er war für die Weltausstellung von 1888 gebaut worden, aber inzwischen diente sein Bauch, der wie eine weltliche Kathedrale wirkte, Todgeweihten und Bettlern bei Nacht oder Kälte als Unterschlupf. Jetzt war das große Becken auf dem Dach ein morastiger See, der langsam durch die Ritzen des Gebäudes versickerte.
Mit einem Mal bemerkte ich eine an einem Ende des Dachs stehende Gestalt. Als hätte sie allein die Berührung meines Blicks aufgeschreckt, wandte sie sich brüsk zu mir um und schaute mich an. Ich fühlte mich immer noch leicht benommen und sah alles umwölkt, aber ich glaubte, dass sie näher kam. Sie tat es allzu schnell, als ob ihre Füße beim Gehen den Boden nicht berührten und sie sich schubweise fortbewegte, zu flink, als dass man es hätte wahrnehmen können. Im Gegenlicht konnte ich kaum ihr Gesicht erkennen, aber immerhin sah ich, dass es sich um einen Herrn mit schwarz glänzenden, für sein Antlitz eigentlich zu großen Augen handelte. Je näher er mir kam, desto länger und größer wirkte seine Silhouette. Ich verspürte einen Schauder und wich einige Schritte zurück, ohne zu bemerken, dass ich damit schon an den Rand des Beckens gelangte. Ich spürte, wie ich schwankte, und wäre rücklings ins dunkle Wasser gefallen, hätte mich der Fremde nicht am Arm gepackt. Sanft zog er mich auf sicheren Boden zurück. Ich setzte mich auf eine der Bänke, die den Teich umstanden, und atmete tief. Als ich aufschaute, sah ich ihn zum ersten Mal in aller Deutlichkeit. Seine Augen waren von normaler Größe, die Statur wie die meine, seine Schritte und Bewegungen die eines ganz normalen Herrn. Sein Gesicht wirkte liebenswürdig.
»Danke«, sagte ich.
»Fühlen Sie sich gut?«
»Ja. Mir ist nur ein wenig schwindlig.«
Der Fremde setzte sich neben mich. Er war in einen dunklen, erlesen geschnittenen Dreiteiler gekleidet, mit einer kleinen Silberbrosche am Revers, einem Engel mit ausgebreiteten Flügeln, der mir seltsam vertraut vorkam. Als könnte er meine Gedanken lesen, lächelte mir der Fremde zu.
»Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Angst gemacht«, sagte er. »Vermutlich haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher