Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
über mich und leckte mir gemächlich die Lippen.
»Wie wenig ich euch doch kenne«, flüsterte sie.
10
Am nächsten Tag erwies sich die Leuchtkrippe tatsächlich als zugkräftige Werbung, und zum ersten Mal seit Wochen sah ich meinen Vater lächeln, während er im Geschäftsbuch ein paar Verkäufe notierte. Von den ersten Vormittagsstunden an tröpfelten einige alte Kunden herein, die sich lange nicht mehr hatten blicken lassen, sowie Lesewillige, die uns zum ersten Mal aufsuchten. Ich überließ sie alle meinem Vater und seiner Erfahrung und sah mit Freuden, wie er es genoss, ihnen Titel zu empfehlen, wie er ihre Neugier weckte und ihre Vorlieben und Interessen erahnte. Das versprach ein guter Tag zu werden, der erste seit vielen Wochen.
»Daniel, wir werden die Reihe mit den illustrierten Klassikern für Kinder wieder hervorholen müssen. Die Vértice-Ausgaben mit dem blauen Rücken.«
»Ich glaube, die sind im Keller. Hast du die Schlüssel?«
»Bea hat kürzlich danach gefragt, um irgendwelche Kindersachen runterzubringen. Ich glaube, sie hat sie mir nicht zurückgegeben. Schau doch mal in der Schublade nach.«
»Da sind sie nicht. Ich geh eben mal hoch und suche sie.«
Ich ließ meinen Vater mit einem Herrn allein, der gerade eingetreten war und ein Buch über die Geschichte der Barceloneser Cafés suchte, und ging durch das Hinterzimmer ins Treppenhaus. Unsere Dachgeschosswohnung war nicht nur sehr hell, sondern stärkte durch das viele Treppensteigen auch Seele und Schenkel. Unterwegs begegnete ich der Witwe Edelmira aus dem dritten Stock, einer ehemaligen Tänzerin, die jetzt in Heimarbeit Müttergottes und Heilige malte, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Allzu viele Jahre auf den Brettern des Arnau-Theaters hatten ihr die Knie zuschanden gerichtet, und jetzt musste sie sich mit beiden Händen am Geländer festklammern, um ein schlichtes Stück Treppenhaus zu bewältigen. Trotzdem hatte sie immer ein Lächeln auf den Lippen und einige nette Worte bereit.
»Wie geht’s denn deiner hübschen Frau, Daniel?«
»Nicht so hübsch wie Sie, Doña Edelmira. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Wie immer lehnte Edelmira mein Angebot ab und gab mir Grüße für Fermín mit, der stets eine Schmeichelei für sie zur Hand hatte und ihr bei jeder Begegnung unziemliche Anträge machte.
Als ich die Wohnungstür öffnete, roch es noch nach Beas Parfüm und nach dieser Duftmischung, wie sie von Kindern und ihren Requisiten ausgeht. Bea stand immer früh auf und führte Julián in dem funknagelneuen Jané-Wägelchen spazieren, das uns Fermín geschenkt hatte und das alle den Mercedes nannten.
»Bea?«, rief ich.
Die Wohnung war klein, und das Echo kam zurück, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie war schon gegangen. Im Esszimmer stehend, versuchte ich den Gedankengang meiner Frau zu rekonstruieren und auf diese Weise herauszufinden, wo sie die Kellerschlüssel deponiert haben mochte. Sie war sehr viel ordentlicher und methodischer als ich. Zuerst suchte ich in den Buffetschubladen, wo sie Quittungen, zu beantwortende Briefe und Münzen zu verwahren pflegte. Dann ging ich weiter zu den kleinen Tischen, Obstschalen und Regalen.
Nächste Station war die Küche, wo Bea in einer Vitrine Notizen und Gedächtnishilfen hinterließ. Das Glück war mir nicht hold, und so endete ich im Schlafzimmer; ich blieb vor dem Bett stehen und blickte mich analytischen Sinnes um. Bea belegte fünfundsiebzig Prozent von Schrank, Schubladen und anderen Schlafzimmereinrichtungen, mit dem Argument, ich ziehe mich ja sowieso immer gleich an, also reiche ein Eckchen im Kleiderschrank für mich. Die Systematik ihrer Schubladen war von einer Raffinesse, vor der ich kapitulierte. Ein gewisses Schuldgefühl befiel mich, als ich das Reich meiner Frau durchforstete, aber nachdem ich glücklos alle sichtbaren Möbel abgesucht hatte, hatte ich die Schlüssel immer noch nicht gefunden.
Rekonstruieren wir doch den Ablauf, sagte ich mir. Vage erinnerte ich mich an eine Bemerkung von Bea, sie wolle eine Schachtel mit Sommerkleidern hinunterbringen. Das war vor zwei Tagen gewesen. Wenn mich die Erinnerung nicht täuschte, trug sie an jenem Tag den grauen Mantel, den ich ihr zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich musste lachen über meine Kombinationsgabe und öffnete den Schrank, um unter Beas Kleidern den Mantel zu suchen. Da war er. Wenn alles von Sir Arthur Conan Doyle und seinen Adepten Gelernte stimmte, befanden
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