Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
Sonst kriegen wir einen Rüffel.« Der Arzt bedeutete Fermín, sie sollten sich ans andere Ende des Grabens begeben. »Heutzutage haben die Wände Ohren.«
»Jetzt fehlt nur noch, dass sie dazwischen ein halbes Hirn haben, dann kämen wir vielleicht hier raus«, antwortete Fermín.
»Wissen Sie, was mir Martín gesagt hat, als ich ihn auf Ersuchen des Herrn Direktor zum ersten Mal untersuchte?
›Doktor, ich glaube, ich habe die einzige Art entdeckt, wie man hier rauskommt.‹
›Und die wäre?‹
›Tot.‹
›Kennen Sie keine praktischere Methode?‹
›Haben Sie den Grafen von Monte Christo gelesen, Doktor?‹
›Als Junge. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.‹
›Dann lesen Sie ihn wieder. Dort steht alles.‹
Ich mochte ihm nicht sagen, dass der Herr Direktor sämtliche Bücher von Alexandre Dumas aus der Bibliothek hatte entfernen lassen, zusammen mit denen von Dickens, Galdós und vielen anderen Autoren, weil er in ihnen Schundliteratur für einen ungebildeten Plebs sah, und sie durch eine Reihe unveröffentlichter Romane und Erzählungen aus eigener Feder und der einiger seiner Freunde ersetzte. Er ließ sie von Valentí in Leder binden, einem Gefangenen, der aus dem graphischen Gewerbe stammte und den er nach getaner Arbeit erfrieren ließ, indem er ihn zwang, im Januar fünf Nächte unter strömendem Regen im Graben zu verbringen, weil er sich über die Vorzüglichkeit seiner Prosa lustig gemacht hatte. Valentí hatte es geschafft, von hier wegzukommen – nach der Methode Martín: tot.
Nachdem ich einige Zeit hier war und Gespräche zwischen den Wärtern mit angehört hatte, wurde mir klar, dass David Martín auf Ersuchen des Herrn Direktor persönlich hierhergekommen ist. Er hatte im Modelo-Gefängnis eingesessen, weil man ihm eine Reihe Verbrechen zur Last legte, an die meiner Meinung nach niemand wirklich glaubte. Unter anderem hieß es, er habe aus Eifersucht seinen Mentor und besten Freund, einen wohlhabenden Herrn namens Pedro Vidal, Schriftsteller wie er, und seine Gattin Cristina umgebracht. Auch habe er kaltblütig mehrere Polizisten und weiß Gott wen sonst noch umgelegt. In letzter Zeit werden so viele Leute so vieler Dinge angeklagt, dass man gar nicht mehr weiß, was man glauben soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Martín ein Mörder ist, aber andererseits habe ich in den Kriegsjahren so viele Leute beider Seiten gesehen, die sich die Maske vom Gesicht rissen und ihr wahres Gesicht zeigten, so dass man wirklich nicht mehr weiß … Alle werfen den ersten Stein und zeigen dann auf den Nachbarn.«
»Wenn ich Ihnen erzählte …«, bemerkte Fermín.
»Jedenfalls ist der Vater dieses Vidal ein mächtiger Industrieller, betucht bis zu den Brauen, und er soll einer der wichtigsten Bankiers der Nationalen gewesen sein. Warum nur werden alle Kriege von den Bankiers gewonnen? Kurzum, der Potentat Vidal hat das Justizministerium persönlich ersucht, nach Martín zu fahnden und dafür zu sorgen, dass er im Gefängnis verfaule für das, was er mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter angestellt habe. Anscheinend war Martín schon fast drei Jahre lang im Ausland flüchtig gewesen, als man ihn in der Nähe der Grenze aufgriff. Er war wohl nicht ganz bei Sinnen, in ein Spanien zurückzukehren, wo man nur darauf wartete, ihn ans Kreuz zu nageln. Und das auch noch in den letzten Kriegsjahren, wo Tausende Menschen den umgekehrten Weg gingen.«
»Manchmal hat man es satt zu fliehen«, sagte Fermín. »Die Welt ist sehr klein, wenn man keinen Ort hat, wohin man gehen kann.«
»Vermutlich hatte das auch Martín gedacht. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, die Grenze zu überschreiten, aber einige Bewohner von Puigcerdá benachrichtigten die Guardia Civil, nachdem sie ihn tagelang in Lumpen und Selbstgesprächen hatten durchs Dorf streifen sehen. Einige Hirten sagten, sie hätten ihn auf dem Weg nach Bolvir gesehen, zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Dort gab es ein altes Gemäuer namens La Torre del Remei, das im Krieg zu einem Hospital für an der Grenze Verwundete geworden war. Es wurde von einer Gruppe Frauen geleitet, die sich vermutlich Martíns erbarmten und dem vermeintlichen Milizangehörigen Kost und Logis gaben. Als man ihn suchte, war er schon nicht mehr da, aber noch in der Nacht überraschte man ihn dabei, wie er auf den gefrorenen See hinausging und mit einem Stein ein Loch ins Eis zu schlagen versuchte. Anfänglich dachte man, er wolle sich umbringen, und übergab ihn
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