Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
lebenswichtiges Organ zu treffen, und danach waren die Klagelaute der in den Graben gefallenen Füsilierten noch stundenlang zu hören. Gelegentlich vernahm man auch eine Explosion, und die Schreie verstummten schlagartig. Die Theorie, die unter den Gefangenen zirkulierte, besagte, einer der Offiziere habe ihnen mit einer Granate den Rest gegeben, aber niemand war sicher, ob das wirklich die Erklärung war.
Ein weiteres Gerücht unter den Insassen lautete, immer am Freitagvormittag empfange der Direktor in seinem Büro Frauen, Töchter, Freundinnen, ja selbst Tanten und Großmütter von Gefangenen. Ohne seinen Ehering, den er in die oberste Schreibtischschublade verbannt hatte, hörte er sich ihre Bitten an, wog ihre Ansuchen ab, reichte ihnen ein Taschentuch für ihre Tränen und akzeptierte ihre Geschenke und Gefälligkeiten anderer Natur, die ihm für das Versprechen besserer Ernährung und Behandlung oder der Revision undurchsichtiger, aber nie wirklich angefochtener Urteile gewährt wurden.
Andere Male servierte ihnen Mauricio Valls einfach Teegebäck und ein Glas Muskateller, und wenn sie trotz der elenden Zeiten und der schlechten Ernährung noch gut aussahen und bekneifenswert waren, las er ihnen eine seiner Schriften vor und gestand, die Ehe mit einer Kranken gleiche dem Leidensweg eines Heiligen, fand tausend Worte für den Abscheu, den er vor seiner Kerkerarbeit empfand, und die Erniedrigung, die es für einen Mann von so hoher Kultur, Raffinesse und Vortrefflichkeit bedeutete, auf diesen schäbigen Posten verbannt worden zu sein, wo es doch sein eigentliches Schicksal war, zur Elite des Landes zu zählen.
Die Veteranen rieten, den Direktor gar nicht zu erwähnen und möglichst nicht an ihn zu denken. Die meisten Gefangenen sprachen lieber über die Familien, die sie zurückgelassen hatten, über ihre Frauen und das Leben, an das sie sich noch erinnerten. Einige hatten Fotos von Verlobten oder Ehefrauen, die sie horteten und mit ihrem Leben verteidigten, wenn jemand sie ihnen wegnehmen wollte. Mehr als einer hatte Fermín erzählt, am schlimmsten seien die ersten drei Monate. Danach, wenn jede Hoffnung verloren sei, vergehe die Zeit wie im Flug, und die Sinnlosigkeit der Tage schläfere die Seele ein.
5
Sonntags nach der Messe und der Ansprache des Direktors setzten sich einige Gefangene in einer sonnigen Ecke auf dem Rasen des Grabens zusammen, um eine Zigarette zu rauchen und den Geschichten zu lauschen, die ihnen David Martín erzählte, wenn er die nötige geistige Klarheit aufbrachte. Fermín, der die ganze Serie von Die Stadt der Verdammten gelesen hatte und deshalb fast alle schon kannte, gesellte sich zu ihnen und ließ seinen Träumereien freien Lauf. Oft aber schien Martín nicht in der Lage, auch nur bis fünf zu zählen, so dass man ihn in Ruhe ließ, während er in den Ecken Selbstgespräche zu führen begann. Fermín beobachtete ihn ausgiebig und hielt sich manchmal dicht bei ihm – etwas an diesem armen Teufel griff ihm an die Seele. Mit Tricks und Listen versuchte er, Zigaretten oder sogar einige Stück Zucker für ihn zu beschaffen, die er über alles liebte.
»Fermín, Sie sind ein guter Mensch. Versuchen Sie es nicht zu zeigen.«
Martín hatte immer eine alte Fotografie bei sich, die er gern lange anschaute. Darauf sah man einen weißgekleideten Herrn mit einem etwa zehnjährigen Mädchen an der Hand. Gemeinsam betrachteten sie vom äußersten Rand einer kleinen Holzmole aus, die sich wie ein über glasklares Wasser gespannter Laufsteg über einen Strand zog, den Sonnenuntergang. Wenn ihn Fermín nach dem Foto fragte, schwieg Martín und steckte es lächelnd wieder ein.
»Wer ist das Mädchen auf dem Bild, Señor Martín?«
»Ich weiß es nicht genau, Fermín. Manchmal versagt mein Gedächtnis. Geht es Ihnen nicht auch so?«
»Natürlich. Das geht uns allen so.«
Man munkelte, Martín sei nicht ganz bei Trost, aber Fermín vermutete schon bald, der Arme sei noch verrückter, als die übrigen Gefangenen annahmen. Manchmal war er bei klarerem Verstand als jeder andere, aber oft schien er nicht zu begreifen, wo er sich befand, und sprach von Orten und Menschen, die ganz offensichtlich nur in seiner Phantasie oder Erinnerung existierten.
Oft erwachte Fermín mitten in der Nacht und hörte Martín in seiner Zelle sprechen. Wenn er sich leise den Gitterstäben näherte und die Ohren spitzte, vernahm er ganz deutlich, wie Martín mit jemandem diskutierte, den er Señor Corelli
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