Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
rechten Backenknochen. Es ist Anne. Sie lächelt.
»Welche Bilder du auch sehen, welche Töne du auch hören wirst, wisse, dass sie dir nicht wehtun können. Du kannst nicht sterben.«
Umfang und Helligkeit der Kugel nehmen rapide zu. Anne ist darin völlig eingeschlossen. Von der
Schwerkraft befreit, schwebt sie, ohne sich zu bewegen. Ihre Augen sind weit geöffnet. Durch die transparente Hülle hindurch sieht sie, wie in der Finsternis eine Sonne entsteht, eine Morgenröte ohne Horizont. Das Tagesgestirn erhebt sich aus dem Dunkel. Es entfacht aus unwirklichem Glanz ein endloses Gebiet: einen azurblauen Himmel, einen schimmernden See und eine weite Ebene, bedeckt mit bernsteinfarbenen Getreidefeldern, über die ein smaragdgrüner Wind weht. Ein heftiger Donner erschallt.
»Diese Bilder und diese Töne sind lediglich Widerspiegelungen deiner selbst. Versuche dich darin wiederzuerkennen. Vergiss das nicht und finde den Frieden.«
Das Wasser, das Getreide, der Himmel und der Wind fangen an, sich im Kreis zu drehen, dann immer schneller zu wirbeln. Bald schon bilden sie eine einzige Ansammlung vielfarbiger Teilchen, die den Raum ausfüllen. Gleißende Strahlen schießen daraus hervor. Wie angezogen von einem Magneten richten sie sich allesamt auf Anne und vereinigen sich in Höhe ihres Herzens. Das kleine pochende Organ wirft die empfangenen Strahlenbündel auf die innere Oberfläche der Kugel zurück, schmückt sie mit Grundfarben, die sich frei entfalten, irisierend wie auf einer Seifenblase.
Allmählich vermischen sich die Farben, bringen Konturen hervor, Proportionen, Formen, Volumen.
Einzelne Gebilde werden erkennbar: Gesichter, Gegenstände, Orte. Hunderte von Bildern sind über die Innenwand der Kugel verstreut, gleich einem Puzzle, dessen Teile keine festen Umrisse haben. Die Bilder, durch Lichtstrahlen mit Anne verbunden, ziehen mit hoher Geschwindigkeit vorüber, fügen sich ineinander und verschmelzen zu einem herrlichen Panorama. Anne wohnt dem Lauf ihres Schicksals bei.
Ihre erste Vision: Umgeben vom blendenden Lichthof der Operationslampe, unscharf und deformiert durch die Tränenflüssigkeit auf ihren Augen, die von grünem Mundschutz verdeckten Gesichter des medizinischen Personals.
Ein Badezimmer, gekachelt mit blassblauen Fayencen. Im ovalen Spiegel über dem Waschbecken aus Porzellan sieht sich Anne zum ersten Mal als Neugeborenes in den Armen ihrer Mutter. Rose, strahlend vor Glück, jung und fesch, den Kopf an den ihrer Tochter gelehnt, trällert À la claire fontaine und wiegt sie.
Ein ungeschicktes Händchen wirft die Saugflasche aus rotem, in Millimeter eingeteilten Glas um. Sie schlägt gegen das Brett des Hochstuhls, fällt auf die grauen Fliesen und zersplittert. Die Milch läuft aus.
Auf dem großen Tisch aus massivem Holz steht eine Geburtstagstorte, überzogen mit Schlagsahne, beladen mit farbenprächtigen Früchten. Ganz oben, in winzige,
an Blütenkronen erinnernde Kerzenleuchter aus Plastik gesteckt, befinden sich zwei kleine rosa Kerzen, umwickelt mit einem Netz aus weißem Wachs.
Ein riesiger Plüschpanda, eingezwängt zwischen den bunten Kissen eines braunen Samtsofas, bittet mit flehendem Blick, dass jemand mit ihm spielen möge.
In der Kugel wird Anne, der Schwerelosigkeit anheimgegeben, je nach Bild hierhin und dorthin getragen. Die Gesichtszüge spiegeln ihre Gefühle wider, die fast im Nu vom Schrecken in Frohsinn übergehen, vom Ernst in Rührung.
Fünf vietnamesische Kinder flüchten weinend auf einer Landstraße, begleitet von vier bewaffneten Soldaten. In der Mitte des Schwarzweißfotos ein Mädchen von etwa zehn Jahren, nackt. Die Arme ausgebreitet, das Gesicht schmerzverzerrt, eilt es schreiend weiter.
John, Annes Vater, ungefähr dreißig Jahre alt, sitzt vornübergebeugt an seinem mit Resopal beschichteten Küchentisch, den Kopf auf die angewinkelten Arme gelegt. Tränen laufen ihm über die Wangen.
Direkt am Meer, auf einer mit schwarzen Schieferplatten ausgelegten Terrasse, springt Hector, ein beigefarbener Bracke, immer wieder senkrecht nach oben,
um verzweifelt einen Stint zu erhaschen, der zwischen den Fingern eines fröhlichen, zirka sechzigjährigen Mannes zappelt. Es ist Annes Großvater.
Die Ohren im Wind, der den Perlenschleier des salzigen Wassers in die Höhe treibt, rennt Hector wie ein Wiesel am Ufer entlang und genießt seine Freiheit bis zum Äußersten.
Auf der großen Leinwand dreht Bambi, hingerissen von einem Walzer, Pirouetten auf
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