Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
Vom Netzwerk:
das Gesicht eines kleinen Mädchens auf den vorgewölbten Bauch der schwangeren Anne. Mit nacktem Oberkörper vor ihm stehend, lässt sie es geschehen, wiewohl beunruhigt.
    In der Kugel runzelt Anne die Stirn.
     
    Anne ruht auf ihrem Bett inmitten eines Berges von Kopfkissen, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Erschöpft und zugleich liebevoll betrachtet sie das Neugeborene, das an der Mutterbrust trinkt. Henry, der nicht einzutreten wagt, beobachtet die beiden durch den Türspalt vom Flur aus.
    Ein kleiner Flughafen in der Provinz. Auf dem Rollfeld geht Anne mit einem Babytragekorb auf die Maschine zu. Sie hält inne und wirft einen Blick auf die verglaste Front des Terminals, um Henry dort auszumachen. Er ist nicht da.
    Anne klebt ein Plakat ins Schaufenster einer Pizzeria. Ihr Name steht unter der Reproduktion einer Batik, die einen weißen Wolf mit aufgerissenem Maul zeigt. Es ist ihre erste Ausstellung.
    Die Galerie ist brechend voll. Die Batiken an den Wänden, auf denen Schutzgötter zu sehen sind, vermischen sich mit einem Porträt von Henry. Aus dem
Stimmengewirr steigen Lachsalven auf. Anne steht in einer Ecke des Raumes, ein Glas in der Hand, und redet beschwingt.
    In der Kugel hat Anne den Kopf gesenkt. Sie schluchzt, die Augen geschlossen.
     
    Ein Krankenhausflur, nachts. Durchnässt, tränenüberströmt, die Wange von Blutspuren durchzogen, stampft Anne hysterisch mit den Füßen und trommelt gegen die Scheibe der Intensivstation.
    Anne läuft durch den Regen, schiebt ihren Kinderwagen in eine Allee des High Park. Ein junger Mann kommt schreiend auf sie zu. Es ist Evan, bleich und schwächlich, nicht wiederzuerkennen.
    Anne hat sich die Haare geschnitten. Im Schneidersitz auf dem Orientteppich des Wohnzimmers ihrer Eltern sitzend, durchblättert sie ein Buch über Thangkas 8 .
    Gelähmt vor Schreck sitzt Anne auf ihrem Bastbett in einer Raststätte. Im nächtlichen Dunkel fährt der Lastwagen los. Hinter ihr, unter den bedrohlichen, auf
die Stoßstange gemalten Augen, baumeln die Zitrone und der Babyschuh.
    Das Motorrad fliegt durch die Luft. Vom Sitz geschleudert, ohne einen Schrei auszustoßen, dreht sich Anne im weißen Himmel, die Arme weit geöffnet, empfangsbereit.
    In der Kugel hat Anne die Augen geschlossen. Völlig gelassen, atmet sie ruhig, genießt diesen Moment ebenso wie jenen während des Sturzes. Ihr Seelenfrieden wird jäh unterbrochen von der Stimme des alten Mannes.
    »Selbst wenn du deine religiösen Pflichten immer erfüllt hast, wird dir das nichts nutzen, solange du deine Projektionen nicht erkennst.«
    Anne öffnet die Augen. Die gesamte Innenwand der Kugel ist mit Lucie ausgefüllt. Unter den amüsierten Blicken ihrer Großeltern spielt sie vergnügt in der Badewanne. Ihr Schädel ist bandagiert.

Der Bardo der Wiedergeburt
    Der erste Schimmer des Tages erweckt die scharfen Umrisse der verschneiten Gipfel. So weit das Auge reicht, umhüllt sich der majestätische Berg, ebenso bedrohlich wie gleichgültig, ringsum mit Licht und wird wiedergeboren, als wäre dieser friedliche, gleichsam göttliche Vorgang alles in allem belanglos. Verloren am Grund dieses unermesslichen Kraters ist ein winziges, safrangelbes Flackern zu bemerken. Eingezwängt zwischen dem tiefen Schwarz der Vegetation und dem milchigen Grau der Felsen hält es unbeeindruckt Wacht: ein unscheinbares Feuer inmitten des Nirgendwo, ein kleines beruhigendes Feuer. Davor sitzt Tsepel, der unerschütterlich fortfährt, die Glut zu schüren und seine Gebete zu rezitieren.
    »Selbst wenn du im Laufe der Jahrhunderte die heiligen Texte studiert hast, wird dir das nichts nutzen, solange du deine Wunschvorstellungen nicht erkennst. Du wirst nicht den Frieden kennenlernen, solange du deine Projektionen nicht erkennst …«

    Mehrere Meter entfernt lehnt Evan noch immer schlotternd am Stamm der Pinie. Unter der Jacke des Bauern, die seine Schultern bedeckt, pressen die Arme den leeren Rucksack gegen den Bauch. Seine Atmung ist eine Folge langer, regelmäßiger Seufzer, die fast besänftigend wirken. Sein Geist schweift ab, weggetragen von einem Strom schwindender Erinnerungen: eine Tasse mit heißer Schokolade, das Café im High Park, Annes Lachen, ihre roten, aufgeschnürten Turnschuhe, die Sonnenblume auf Lucies Sportwagen, das schwarze Korn des feuchten Asphalts, die flammenden Ahorne im Herbst, ein Rechen, der die gelb gewordenen Blätter zusammenscharrt … Er hat nicht mehr die Kraft, sich an ein Bild zu erinnern und die

Weitere Kostenlose Bücher