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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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dem Eis, die Hufe in alle vier Richtungen gestreckt.
    Erster Schultag. Die Lehrerin komplimentiert die Eltern aus dem Klassenzimmer. Die Kinder weinen, plärren. Anne ist unter ihnen.
    Rose steht wütend vor ihr. Sie hebt die Hand zum Himmel, dann stürzt diese jäh herab. Die Ohrfeige schallt. Anne, sechs Jahre alt, hält sich die schmerzende Wange, betrachtet verstört ihre hünenhafte Mutter. Hinter ihr ist die Tapete mit Kritzeleien übersät.
    Annes Großvater liegt auf seinem Totenbett. Er trägt einen dunklen, tadellos gebügelten Anzug. Sein Gesicht ist unnatürlich aufgedunsen, seine Haut blass und weich.
    Ein metallener Fressnapf auf gefliestem Boden. Ringsum liegt verstreut das Trockenfutter für Hunde.
    Eingeschlossen in ihre Kugel, der eigenen Vergangenheit ausgeliefert, weint Anne, machtlos.

     
    Die halbwüchsige Anne liegt nackt auf dem Rücken. Sie bietet sich dar. Am Fußende des Bettes betrachtet ein Junge sie voller Bewunderung.
    Es ist Nacht. Es regnet. Bis auf die Knochen durchnässt rast Anne auf ihrem Fahrrad eine breite, verlassene Allee entlang und schreit vor Freude.
    Auf einem Podest in der Mitte des Schulhofs nimmt sie, ein junges, festlich gekleidetes Mädchen, aus den Händen des Direktors ihr Abschlusszeugnis entgegen.
    In ihrer Kugel ist Anne euphorisch.
     
    Einen großen grünen Zeichenblock in der Hand, lässig in schreiende Farben gekleidet, durchschreitet Anne zum ersten Mal die hohe Holztür der Kunstakademie in Montreal.
    Die Kneipe ist überfüllt. Die Band spielt Blues. Allein auf der Tanzfläche, bewegt sich Anne hemmungslos unter den amüsierten Blicken der Gäste. Einer von ihnen, mittleren Alters, fasst sie am Arm, dreht sie zweimal um die eigene Achse, umfängt und küsst sie. Anne lässt ihn gewähren.
    Es herrscht eine feierliche Atmosphäre. In der Malklasse steht Anne nackt Modell für eine Gruppe von Studenten. Ein gelockter Rothaariger betrachtet sie verliebt. Seine Leinwand bleibt weiß.

    Bäuchlings auf einem zerwühlten Bett, das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt, mustert Anne, nackt, zwei junge pralle Pobacken. Den Rücken zugewandt, bereitet der gelockte Rothaarige in der kleinen, unaufgeräumten Küche den Kaffee zu.
    Vor dem Haus parkt ein alter, knallroter Oldsmobile Cutlass, umwickelt mit einem breiten himmelblauen Band. Auf die Motorhaube ist in schwarzer Farbe groß die Zahl 23 gemalt. In der Haustür stehen John, Rose und Anne. Rose hebt die Hände von den Augen ihrer Tochter. Anne hüpft vor Freude und dankt ihren Eltern mit überschwänglichen Küssen.
    Äußerst akkurat gekleidet, die Haare sorgfältig zu einem Knoten aufgesteckt, schreibt Anne gerade den letzten Buchstaben ihres Namens auf die schwarze Tafel und dreht sich um. Vor ihr eine Klasse Halbwüchsiger, die sie anstarren.
    Betrunken taumelt Anne mitten in der Nacht durch eine Avenue. Ein junger Mann stützt sie und hilft ihr, die Freitreppe eines Gebäudes aus den Zwanzigerjahren hochzusteigen.
    In der Toilette eingeschlossen hat Annes den Blick auf ein weißes Stäbchen gerichtet, das sie zwischen den Händen hält. Darin befindet sich ein winziges Fenster. Zwei parallele rosa Linien erscheinen auf dem Schwangerschaftstest.

    Lächelnd dankt ihr die Mutter Oberin ein letztes Mal auf der Schwelle der Klosterschule und schließt die Tür.
    Zahllose Protozoen, gräuliche, verschwommene Massen mischen und trennen sich auf dem Bildschirm des Ultraschallgeräts. Plötzlich lösen sich Formen aus dem Nichts: ein Fächer liliputanischer Zehen, ein Fuß, zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf. In der Mitte des Rumpfes eine winzige Qualle, die sich zusammenzieht und wieder loslässt - das Herz, das schlägt.
    In ihrer Kugel vollführt Anne eine Drehung und lächelt, zutiefst gerührt.
     
    Unter der Zirkuskuppel, in der Mitte der Manege, ausgestreckt in einem stockfinsteren Behältnis, das einem Sarg ähnelt, strampelt ein als Säugling verkleideter zwergenhafter Clown gegen Annes Bauchdecke. Sie stößt Schmerzensschreie aus. Das Publikum wird von schallendem Lachen ergriffen.
    Die Jalousien des Krankenhauszimmers sind herabgelassen. Die Sonne wirft Streifen auf die abgedunkelte weiße Wand. Henry muss das Bett hüten. An seiner Seite sitzt Anne, immer noch schwanger, und zeichnet.
    Ein langgezogener einsamer Strand, in Sonnenlicht getaucht. Auf allen vieren hat Henry es geschafft, Annes
Körper fast vollständig mit Sand zu bedecken. Bis zum Hals eingegraben, lacht sie.
    Kniend zeichnet Henry

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