Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Zeit zu unterbrechen, aber er bleibt standhaft, weigert sich hartnäckig zu schlafen, Anne mit diesem verrückten Alten allein zu lassen. Außerdem ist da noch etwas anderes. Er will sich nicht dem Traum hingeben, nicht um einer kurzen Atempause willen der Wirklichkeit entfliehen. Er ist schuldig, und schuldig muss er leiden. Welch ein törichter Grundsatz, welch eine krankhafte Erziehung! Wie kann man sich davon freimachen? Wie dieses absurde Schuldgefühl überwinden, das nur Verzweiflung und Lähmung hervorruft? Mit halb geschlossenen Augen starrt Evan auf die Funken, die zum Himmel stieben, ohne etwas zu sehen. Doch einige Meter vor ihm ist Anne wiedererschienen.
Sie ist da, sitzend, ruhig, eingehüllt in den Rauch, der sich um das Feuer ausbreitet. Ihr weißes Hemd, das beim Aufprall zerriss, ist wie neu, makellos, derart weiß, dass es nun fast blendet und ihren Oberkörper mit einem zarten Schimmer umgibt. Auch ihre Wunden sind verheilt, keine Spur mehr vom Unfall. Neugierig beobachtet Anne diesen seltsamen alten Mann, der vor ihr, dem Feuer gegenüber, einen Text mit religiösem Unterton deklamiert. Sie ist verwirrt. Sie erwacht an einem Ort, den sie nicht kennt. An der Realität zweifelnd, die sich ihrem Blick darbietet, versucht sie den Rauch mit einer Handbewegung zu vertreiben, aber es gelingt ihr nicht.
»Du wirst aufwachen und dich fragen, was mit dir geschieht. Dein Bewusstsein wird sich in einer Form manifestieren, die der vorherigen ähnelt.«
Anne weiß nicht, dass er auf Tibetisch spricht. Sie versteht alles, was er sagt, auf ganz natürliche Weise. Andere Fragen kommen ihr in den Sinn.
Wer ist dieser Mann? Was macht er hier in der Dämmerung? Und ich, was mache ich hier? Wo bin ich überhaupt?
Doch Anne wagt nicht, ihn zu unterbrechen und danach zu fragen. Anscheinend vollzieht er eine Art Ritual. Sie scheut davor zurück, ihn zu stören, und bemüht sich um Konzentration.
Zu wem spricht er? Und wovon spricht er?
Sie sitzt auf dem Schlafsack, der ihren eigenen Leichnam bedeckt, aber sie hat ihn nicht gesehen. Sie ist immer noch ahnungslos.
»Du wirst einen Körper aus Fleisch und Blut haben, der mit deinen Erinnerungen übereinstimmt. Aber er wird strahlen, und im blühendsten Alter …«
Was mache ich hier nur?
Schließlich trifft sie eine Entscheidung.
»Verzeihen Sie!«
Sie erwartet eine Antwort, doch der alte Mann hat sie nicht gehört. Sie redet ihn erneut an, diesmal lauter.
»Verzeihen Sie!«
Keine Reaktion. Mit eintöniger Stimme trägt er seine Sprüche vor, wie mit Taubheit geschlagen.
»… wirst du das besitzen, was man einen ›geistigen Körper‹ nennt. Durch dein Unterbewusstsein gestaltet, wird er dich dorthin tragen, wo du wiedergeboren werden musst.«
Anne lauscht ihm. Ein eiskalter Schauer läuft ihr über den Rücken, der sie mit einer bösen Ahnung erfüllt. Sie schüttelt sich.
Was geht hier vor? Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist einfach verkehrt.
Sie schwenkt wieder die Arme, um den Rauch zu vertreiben, aber die Schwaden hüllen sie weiterhin ein, als hätte sie sich nicht bewegt. Anne bemerkt es kaum,
völlig darauf konzentriert, das Halbdunkel zu erforschen, das sie umgibt: Büsche, Bäume, Felsen, ein harziger Geruch. Gleich einem Pfeil, der die einzuschlagende Richtung anzeigt, schießt ein feiner Sonnenstrahl über den Gebirgspass und trifft direkt auf die verchromte vordere Felge des Motorrads, die durch den Aufprall verbogen ist; der Reifen ist platt. Der Lichtstrahl wird stärker, offenbart nach und nach die Szene des Unfalls. Anne schließt die Augen und atmet tief ein. Sie hat begriffen, erinnert sich. Und sie will keinesfalls mehr davon sehen. Doch die Erinnerungsfetzen kehren blitzschnell an ihren Platz im Denken zurück. Sie hat keine Wahl, seufzt schwer und öffnet die Augen, entschlossen, ihren Ängsten zu trotzen. Etwa zehn Meter entfernt, unter dem Nadelbaum, ist Evan seinerseits den Angriffen der Morgendämmerung ausgesetzt. Der Kopf ruht auf der Schulter. Die Lider zucken. Bald wird sich zeigen, dass der Schlaf ihn mit gutem Grund übermannt hat. Anne eilt zu ihrem Gefährten und kniet sich neben ihn. Verblüfft stellt sie fest, dass sein Gesicht mit Staub beschmutzt, seine Kleidung zerrissen ist. Sie sieht die Wunden und die zusammengebastelte Schiene am Bein.
»Evan, was ist passiert?«
Er antwortet nicht. Anne streckt den Arm aus, um ihn an der Schulter zu rütteln, aber anstatt mit dem dicken Jackenstoff in Berührung zu
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