Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
huschen die üppigen Schatten von Laub. Das Erkerfenster ist weit geöffnet.
Draußen bewegt eine leichte Brise das Geäst eines prächtigen Flieders, übersät von Sprenkeln warmen Lichts, das von der städtischen Beleuchtung herrührt. Der milde Duft von Blumen erfüllt das Zimmer. Annes Nasenlöcher zittern. Erstaunt über diesen seltsamen neuen Geruch nimmt sie langsam die Hände von den Ohren und öffnet dann die Augen. Ihr schlägt das Herz bis zum Hals. Vor ihr das Waschbecken ihres Kinderzimmers. Darüber, auf der Ablage, zwischen einem Flakon Eau de Cologne und einem Glas, das eine kleine Zahnbürste sowie eine Tube Zahnpasta mit Erdbeergeschmack enthält, steht ein großer Wecker mit Glöckchen aus Messing.
O nein. Was widerfährt mir denn noch alles?
Anne erkennt sofort das schreckliche Ticktack wieder, das ihre Angst vor der Schlaflosigkeit verstärkte und sie jahrelang vom Schlafen abhielt. Diese unangenehme und gewiss überflüssige Erinnerung löscht sie auf der Stelle aus. Sie will weder nachdenken noch sich irgendetwas ins Gedächtnis zurückrufen. Sie senkt den Blick. Unter ihren Beinen befindet sich die Tagesdecke auf ihrem Bett im Elternhaus, bedruckt mit bunten Papierdrachen. Anne wendet den Kopf. An ihrer Seite liegt Lucie mit nacktem Oberkörper. Ihre blonden Haare stehen über die Bandage hinaus, die den Kopf umschließt. Die Ränder des Pflasters sind mit Schweiß
durchtränkt. Es muss warm sein. Anne jedoch spürt nichts. Sie beugt sich über ihre Tochter.
»Lucie?«
Die Kleine reagiert nicht.
»Lucie!«
Sie schläft friedlich.
»Auch du hörst mich nicht.«
Der Brustkorb des Mädchens schwillt an und sinkt in einer fließenden, gleichmäßigen Bewegung wieder nach unten. Ihre Haut, der das künstliche Licht von draußen einen seidigen Glanz verleiht, ist mit einer dünnen Schicht Schweiß bedeckt. Anne betrachtet sie.
»Lucie, hörst du mich? Was würde es sonst nützen, dass ich hier bin, um mit dir zu sprechen?«
Mit dem Handrücken deutet Anne eine Liebkosung auf dem Backenknochen ihrer Tochter an.
»Lucie …«
Anne versucht, die Schluchzer zurückzuhalten. Sie möchte ihr Kind nicht stören.
»Lucie, ich glaube, ich bin tot.«
Anne kneift die Lippen zusammen und schluckt ihren Schmerz. Stumm rinnen ihr Tränen über die Wangen.
»Lucie, ich muss mit dir sprechen.«
Eine Träne fällt auf die Tagesdecke und verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen.
»Ich weiß, dass du wegen mir leiden wirst.«
Anne streckt sich aus, rollt sich schniefend hinter ihrer Tochter zusammen und berührt flüchtig ihr Gesicht. Lucie dreht sich im Bett um und reibt sich die Nase. Das kleine Gesicht liegt nun ganz eng an dem der Mutter, während beider Finger sich vereinen. Trotz ihrer Trauer spielt ein Lächeln um Annes Mund.
»Ah! Endlich mal eine Sache, die wohltut.«
Sie richtet sich ein wenig auf und gibt ihrer Tochter einen Kuss auf die Schläfe.
»Spürst du etwas?«
Lucie regt sich nicht. Anne schmiegt sich fest an sie, schließt die Augen und schnuppert an ihr.
»Wie gut du riechst.«
Auf einem schmalen, zwischen Meer und Dünen hingestreckten Strand mit weißem Sand bräunen die Feriengäste auf ihren Handtüchern. Andere schlendern am Ufer entlang, überwachen ihre Kinder, die im Wasser spielen und kreischen. Der Himmel ist von einem tiefen Blau, das Wetter großartig.
In der Mitte des Strandes zieht ein etwa sechsjähriges Mädchen im Badeanzug das Gesicht aus der dichten Mähne eines alten Mannes. Es sitzt auf seinen Schultern.
Die langen Haare der kleinen Anne werden von einem hellgrünen Band zusammengehalten. Ein Muttermal prangt auf ihrer Wange. Der Mann, der sie trägt, lässt seinen Blick über die Dünen schweifen.
»Siehst du ihn?«
Plötzlich beugt sich Anne vornüber, um das Gesicht des Mannes zu erkennen.
»Großvater?«
»Ja, Anne.«
Sie beugt sich noch weiter nach vorn.
»Bist du’s wirklich, Großvater?«
Sie verliert das Gleichgewicht.
»Holla, Achtung!«
Der Mann packt sie an den Knien, schwingt sie zurück auf die Schultern, sodass ihr Oberkörper wieder am Nacken ruht.
»Natürlich bin ich’s. Wer sollte ich deiner Meinung nach denn sonst sein?«
»Und du hörst mich!«
Anne umklammert den Hals ihres Großvaters.
»Sachte, sachte! Du erwürgst mich.«
Anne stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
»Oh wie bin ich froh, dass du mich hörst!«
Ihr Großvater streckt den Arm aus und deutet auf die Dünen.
»Ah, endlich, da
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