Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
kommen, durchdringt
sie diesen mit der Hand, ohne auf Widerstand zu stoßen. Anne weicht zurück, gibt einen entsetzten Schrei von sich und fällt auf den Rücken. Obwohl der alte Mann einige Schritte entfernt ist, verschafft sich seine Stimme Zugang in ihr Gehör.
»Lausche diesen Worten. Selbst wenn du während deines Lebens blind, taub oder lahm warst, sehen deine Augen jetzt klar, hören deine Ohren, tragen dich deine Beine.«
Ungerührt setzt der Bauer seinen Monolog nahe dem Feuer fort. Weder er noch Evan haben die Miene verzogen, ungeachtet ihrer Schreie.
Haben Sie mich etwa nicht gehört? Haben Sie mich nicht gesehen?
Anne richtet sich auf und betrachtet ihre Hände.
Was ist los? Das kann doch nicht sein!
Sie mustert Evan einige Sekunden lang und beginnt, von einem unkontrollierbaren Drang ergriffen, zu brüllen, so laut sie nur kann.
»Evaaaaaaaan, wach auf!«
Die nachfolgende Stille ist noch ohrenbetäubender als ihr Brüllen. Der alte Mann redet weiter.
»Alle deine Sinne sind klar und ohne Makel. Dieses Zeichen gibt dir zu erkennen, dass du tot bist und im Bardo der Wiedergeburt umherwanderst.«
»Tot?!«
Das Wort ist gefallen. In panischer Angst steht Anne sofort auf, wendet sich Tsepel zu und brüllt ihn an.
»Nein! Das glaube ich nicht. Da ist irgendein Trick. Es muss ein Trick mit im Spiel sein. Und selbst wenn dem so wäre, ich weigere mich. Ich weigere mich! Wer könnte mir derlei aufzwingen?!«
Kaum hat Anne den Satz beendet, wird ihr die Nutzlosigkeit dieser Reaktion bewusst. Sie hat mit erhobener Stimme gesprochen, obwohl sie ganz genau weiß, dass niemand sie hört. Und sie weiß auch, was mit ihr passiert. Warum hätte sie sonst geschrien, warum diese Wut, warum diese Auflehnung? Unbewusst hat sie sich etwas vorgemacht, aber wie kann man das Unzumutbare akzeptieren? Sie bemüht sich, ihre Fassung wiederzugewinnen, und sucht nach einem Mittel, um weiterhin zu verdrängen, um an ihrem Glauben festzuhalten.
Sie hören mich nicht, okay. Außerdem sehen sie mich nicht, okay. Das heißt, ich kann nicht mehr mit ihnen kommunizieren. Gut, nur mit der Ruhe. Ich befinde mich in einer Art anderen Dimension. Ist vielleicht ein böser Traum, aber das beweist nicht, dass ich … Nein. Das beweist überhaupt nichts.
In Gedanken versucht sie, sich an eine zwingende Logik zu klammern, um ihre Unaufrichtigkeit zu untermauern und sich zu beruhigen. Dennoch sind die Schwachstellen ihrer Argumentation offenkundig.
Wenn sie sich ihrer Sache so sicher ist, warum wagt sie dann nicht, jenes Wort in den Mund zu nehmen? Warum vermeidet sie, diese kleine Gruppe harmloser Buchstaben zu benutzen? Die Angst, die Angst verfälscht die Analyse.
Stopp! Ich muss diese miteinander vermischten Vorstellungen aus dem Kopf bekommen. Sie machen die Verwirrung nur noch größer. Man muss glauben. Ja, man muss glauben! Selbst an die Lüge muss man glauben! Man muss glauben, um zu überleben und die Wirklichkeit zu bekämpfen! Schttt! Was hab ich gesagt! Sei still. Sei still! Ruhe bewahren!
Anne setzt sich, schließt die Augen und ohrfeigt sich - als Strafe dafür, dass sie in ihrer Schwäche am eigenen Glauben zweifelte. Mehrmals atmet sie tief ein und aus, um ihre Gedanken in den Griff zu bekommen. Nach etwa zehn Sekunden öffnet sie die Augen wieder.
Na bitte, geht doch schon besser. Fahren wir fort. Dieses Wort existiert nicht, basta! Solange es nicht existiert, bleibt eine Hoffnung, eine Hoffnung auf Erwachen. Ja, ein richtig lautes Weckerläuten, damit dieser Lärm, den ich zutiefst hasse, ein einziges Mal eine Quelle der Freude sei. Los, sogar mehrere Male, wenn’s nötig ist, an jedem Morgen, den ich erleben werde. Looos, mach schon! Läute endlich!
Anne wendet sich Evan zu. Seine Lider heben sich immer noch nicht.
»Evan, ich fleh dich an, antworte mir. Ich kann nicht glauben, was er da redet. Sag mir, dass du mich hörst. Evan, ich fleh dich an!«
Sie versucht erneut, ihren Gefährten zu schütteln, aber die Hände durchqueren ihn Stück um Stück, ohne ihn oder sie selbst im Geringsten zu stören.
»Dein Körper wird sich ungehindert bewegen können. Du wirst Wände, Häuser, Erde und sogar den Kailash 9 durchschreiten können. Du wirst durch alles hindurchgehen können, außer durch den Uterus deiner Mutter.«
Anne setzt sich wieder hin, schließt die Augen, legt die Hände auf die Ohren und bittet:
Läute! Läute!
Das Ticken eines mechanischen Uhrwerks. Es ist Nacht. Über die ockerfarbene Decke
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