Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Eidechse verschwindet unter den Blättern einer herrlichen Glyzinie. Die Pflanze ziert eine alte, aus Quadern bestehende Hausmauer. Ihre violetten Blütentrauben winden sich um die Öffnungen in der Fassade. Die weit aufgerissene Fenstertür geht auf eine mit Schieferplatten ausgelegte Terrasse. Dort ist die kleine Anne auf einem Rattan-Liegestuhl eingeschlafen, ein aufgeschlagenes Buch zu ihren Füßen. Hector beobachtet geduldig, wie eine Ameisenkolonne an seiner träge auf dem Boden ruhenden Schnauze vorbeizieht und Krümel transportiert, die aus einer angebrochenen Keksschachtel gefallen sind.
Dem Haus gegenüber, so weit das Auge reicht, liegt das Meer. Die Sonne senkt sich auf den wolkenlosen Horizont. Kein Laut ringsum. Plötzlich taucht hinter einer riesigen Hortensie Annes Großvater auf. Er trägt eine Latzhose für Gärtner und einen Strohhut. Aus seiner Tasche ragt eine Gartenschere. Mühsam steigt er die Stufen hinauf, die den Garten von der Terrasse trennen, zieht die Lederhandschuhe aus und nähert sich der Enkelin. Sein Teint ist blass. Vorsichtig schiebt er die langen Haare beiseite, die ihr Gesicht bedecken, küsst sie auf die Stirn und hebt das Buch auf. Er schließt es und wirft einen Blick auf den Umschlag: Les Aventures d’Ulysse . Er lächelt, legt das Buch wieder an seinen Platz, nimmt Anne in die Arme und zieht sie hoch. Beide
verschwinden im Haus. Hector trottet still hinter ihnen her.
John ist um die vierzig Jahre alt. Er trägt einen dunklen Anzug. Aufrecht, die Hände kreuzweise auf das Revers gelegt, blickt er betrübt vor sich hin. Rose, ganz in Schwarz, steht neben ihm. Ihre Augen sind gerötet und von dunklen Ringen gezeichnet. Die kleine Anne hat das Gesicht an den Bauch ihrer Mutter gedrückt. Ihr lavendelfarbenes Kleid bildet einen Kontrast zu der bleiernen Atmosphäre. Eine Möwe fliegt schreiend über sie hinweg. John hebt den Blick und beobachtet, wie der Vogel sich entfernt. Über ihren Köpfen türmen sich bedrohliche Wolken auf.
»Wir müssen los. Es wird bald regnen.«
Rose löst behutsam die Umklammerung ihrer Tochter, die sie jedoch sofort wieder um die Taille fasst und sich daran festhält.
»Gehen wir. Anne, wir müssen aufbrechen. Es ist vorbei.«
Das Mädchen hängt sich an seine Mutter, will nicht von der Stelle weichen.
»Liebling, wir müssen zurück. Daheim wartet Hector auf uns.«
Rose streichelt Annes Haar und wirft ihrem Mann einen auffordernden Blick zu.
»Deine Mutter hat recht. Wir können ihn nicht stundenlang allein zu Hause lassen. Er muss ausgeführt werden. Vergiss nicht: Du hast versprochen, dich um ihn zu kümmern.«
Anne lockert ihren Griff. John schließt sie in die Arme. Die kleine Familie macht kehrt und geht schweigsam die Allee hinunter. Zurück bleibt ein offenes Grab, auf dem Sarg ein Bukett aus Margeriten und eine Kinderzeichnung: Ein kleines Boot, sämtliche Segel gehisst, auf dem endlosen Meer treibend.
Die Wände der Eingangshalle sind mit einer Blumentapete bedeckt: Dahlien, Fuchsien, Schwertlilien - orange, altrosa, blassblau. Die cremefarbene Haustür öffnet sich. Die kleine Anne tritt fröhlich ein. Sie trägt einen roten, dreiviertellangen Lodenmantel und auf dem Rücken einen Schulranzen aus schwarzem Leder.
»Hector!«
Anne lässt die Trageriemen ihres Schulranzens über die Arme gleiten, stellt ihn auf die alten Zementfliesen und knöpft ihren Mantel auf, wobei ein dicker Pulli aus norwegischer Wolle zum Vorschein kommt. Plötzlich
hält sie inne, spitzt die Ohren und verharrt einige Momente. Die ausbleibende Antwort macht sie stutzig. Sie runzelt die Stirn.
»Hector?«
Keine Reaktion. Sie zieht ihren Mantel aus, wirft ihn achtlos auf die Treppe, die ins obere Stockwerk führt, durchquert die Eingangshalle, öffnet die Tür zur Küche und geht hinein. Ihr Fuß stößt gegen Hectors Fressnapf. Das Trockenfutter verteilt sich über die Sandsteinplatten. Hector hat nichts gefressen. Anne ist außer sich.
»Hector!«
Sie dreht eine Pirouette und eilt durch eine angrenzende Tür in den Salon. Unter ihren gebieterischen Schritten vibriert das Parkett. Durch eine weitere Tür gegenüber der Treppe gelangt sie wieder in die Halle. Sie stürzt die Stufen hinauf, stampft wütend auf ihren Mantel.
»Hector!«
Sie verschwindet im oberen Stockwerk. Ihre Schritte beschleunigen sich. Türen öffnen und schließen sich. Sie wechselt von einem Zimmer ins andere und ruft immer wieder ihren Hund. Unverrichteter Dinge rast sie
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