Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
die Treppe hinunter, rennt zur Haustür, öffnet sie und fängt draußen panisch zu schreien an.
»Hector! Hector!«
Das Mädchen wartet auf eine Antwort, während es die Umgebung mit den Augen absucht. Eine sanfte Stimme lässt sie zusammenfahren.
»Anne, hör auf zu schreien.«
Sie fährt herum. Einen Wäschekorb im Arm, verschließt ihre Mutter die Kellertür und geht ruhig auf sie zu.
»Mama, Hector ist verschwunden.«
Rose stellt den Korb ab, fasst ihre Tochter an den Schultern, zieht sie an sich und drückt ihren Kopf gegen den Bauch.
»Ich weiß.«
Gelähmt starrt Anne vor sich hin. Die Blumen auf der Tapete beginnen sich zu drehen, zu drehen, und sie drehen sich immer schneller. Der Schwindel wird stärker. Die Bewegung reißt die Decke mit, den Boden, dann die Treppe.
Plötzlich ist alles schwarz.
Vor dem großen viktorianischen Haus, im Vorgarten, der auf die Straße geht, hilft die kleine Anne ihrer Mutter, die Erde um einen jungen Strauch festzustampfen, den beide soeben gepflanzt haben.
»Nun, ich glaube, das genügt.«
Rose zieht ihre Handschuhe aus und reibt sich die Hände.
»Ich bin sicher, dass er sich hier wohlfühlen wird.«
Im Gras kauernd, fährt Anne schniefend fort, mit bloßen Händen auf den Boden zu klopfen. Ihre Wangen sind mit Erde bedeckt, von Tränen feucht. Rose richtet sich auf, geht ein paar Schritte zurück und bewundert ihr Werk.
»Er wird uns einen schönen Flieder und viele Blüten bescheren. So werden wir immer an ihn denken.«
Wenige Meter hinter ihnen, erschüttert an der Fassade aus Backstein lehnend, erleidet Anne im weißen Hemd die eigene Vergangenheit. Ihre mit Erde beschmutzten Wangen sind ebenso von Tränen gezeichnet wie die des Mädchens, das sie einmal war. Ein blendender Blitz schleudert sie durch die Hausmauer. Fortgetragen wie ein Segel, das aus der Halterung gerissen wurde, durchquert sie den Salon, die Halle, dann die Tür zum Keller, gleitet hinab und versinkt im Dunkel.
Anne richtet sich abrupt auf, noch immer außer Atem. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Sie sitzt auf einem Teppich aus Piniennadeln unter Evans Baum. Ihre
Hände sind fest um die Wurzeln geklammert. Es ist heller Tag.
Ihr gegenüber, nahe dem Feuer, ist der Reisighaufen höher geworden. Tsepel nimmt einen dampfenden Topf vom Feuer und gießt vorsichtig gekochtes Wasser in einen Beutel mit gefriergetrockneter Nahrung. Anne senkt die Augen. Auf dem Boden vor ihren Füßen liegt die Jacke des alten Mannes. Batterien, wahrscheinlich leer, sind in die Falte des Kragens gerollt, den Zeit und Schmutz verdunkelt haben. Evan lehnt neben ihr am Stamm. Er hat den Kopfhörer des Walkmans aufgesetzt. Abwesend, den Blick verloren in die Weite gerichtet, hört er andauernd die gleiche Sonate von Bach. Anne schöpft wieder Atem, zieht die Nase hoch und versucht erneut, mit ihm zu sprechen.
»Evan, ich bitte dich, hilf mir, aus diesem Albtraum auszubrechen.«
Er rührt sich nicht.
Los, Evan, fass dir ein Herz. Spricht mit mir, ganz leise. Sag mir etwas, irgendwas, aber sag etwas. Ich werde verrückt, wenn ich in diesem Zustand bleibe.
Anne flüstert ihm ins Ohr.
»Evan, ich fleh dich an. Ich muss mit dir reden. Bitte, gib dir einen Ruck. Ich brauche deine Hilfe.«
Er antwortet nicht. Anne bewegt die Hand vor seinen Augen und beginnt wieder zu flüstern.
»Evan, schau mich an.«
Kein Wimpernschlag.
So ein Mist!
Der Bauer nähert sich den beiden und reicht Evan den Beutel.
Mit zugeschnürter Kehle spricht sie ihn an.
»Verzeihen Sie!«
Evan nimmt den Beutel entgegen.
»Danke.«
Der Tibeter schüttelt ein wenig den Kopf und dreht sich um. Ohne nachzudenken, versucht sie ihm ein Bein zu stellen. Der Knöchel des Bauern durchdringt ihre Wade. Schweigsam entfernt er sich. Er hat nichts bemerkt, nichts gespürt. Anne nimmt den Kopf zwischen die Hände.
Ich muss aufwachen. Ich muss aufwachen.
Sie atmet tief aus und wischt sich die Augen ab.
Gut, entweder ich bin total wahnsinnig geworden, oder es gibt für all das eine vernünftige Erklärung.
Abermals sucht sie mit den Augen die Gegend ab. Um das verunglückte Motorrad liegt der Inhalt des Reisegepäcks über den Boden verstreut. Sie steht auf, geht zu dem bunten Durcheinander, das im Staub ruht: eine Seifenschachtel, das Etui mit Reiseschecks, ihre ausgeleerte Toilettentasche, Flugtickets, eine zerrissene Landkarte von Indien, eine Zehensandale … Unter
Evans Kleidungsstücken erspäht sie ein Foto. Als sie sich
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