Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
Vom Netzwerk:
niederbeugt, um es aufzuheben, wirft sie einen kurzen Blick auf den alten Mann und hält sofort inne, in Bann gezogen von dem Schlafsack, der hinter ihm ausgebreitet ist. Obwohl er auf dem Boden liegt, ist seine Oberfläche nicht eben. Er scheint ein großes längliches Objekt abzudecken.
    O nein, sagt mir, dass es nicht das ist, woran ich denke.
    Anne richtet sich wieder auf und geht vorsichtig dorthin.
    Das ist doch nicht möglich. Nein, unmöglich. Was mag das wohl sein? Holz, das geschützt werden muss, ein Unbekannter, der schläft und den ich nicht habe ankommen sehen.
    Sie kniet sich vor den Schlafsack und atmet tief ein, ehe sie einen Zipfel ergreift. Sie hebt ihn behutsam an. Der synthetische Stoff bewegt sich nicht, wird aber transparent, so als hätte sie ein Zaubertuch gelüpft, das einen Blick durch das Material gestattet. Blutleere Füße kommen zum Vorschein.
    Anne stößt einen Schreckensschrei aus und kippt hintenüber, wobei sie den opaken Vorhang mitreißt, der ihre entblößten Überreste bedeckt hat. Ihrem Mund entweicht ein Wimmern, verstärkt durch Stöhnlaute. Sie kann den Blick nicht abwenden von dem Gesicht ihres Leichnams, der sich zersetzt.

    Die leblose Haut ist grau geworden und mit kleinen Falten überzogen. Ihre linke Wange weist braune Streifen auf, die sich von der Nase bis zum Ohrläppchen ausdehnen. Ein großer dunkler Fleck bedeckt zur Hälfte ihren Hals. Die Augen liegen tief in ihren Höhlen, umhüllt von einem milchigen Schleier. Und zwischen silbernen Lippen die geschwollene Zunge, auf der die Geschmackspapillen Pickel bekommen haben.
    Anne verschlägt es den Atem. Die Halsschlagader pulsiert in heftigen Stößen. Bläulich hervortretende Venen zeichnen die Form ihrer Stirn. Sie beugt sich nach vorn, verschränkt die Arme, um sie gegen den Unterleib zu drücken; dann versteift sie sich plötzlich und bringt ein langes animalisches Röcheln hervor, indem sie die Kehle dem Himmel darbietet.

    Die Sonne steht im Zenit. Jenseits einiger senkrechter Schatten, die von den kahlen Bäumen geworfen werden, gibt es keinen Ort, wo man sich der brütenden Hitze erwehren kann.
    Tsepel hat die Hose ausgezogen. Im Unterhemd, ein schmutziges Tuch auf dem Schädel, trieft er vor Schweiß. Ein Tropfen durchquert den Wall seiner Wimpern, erreicht das Weiß des Auges und löst darin
ein Brennen aus. Er reibt sich das Lid und setzt seine Beschwörungen fort.
    »Mit deinem neuen Körper wirst du dein Haus, deine Eltern und all deine Nächsten wiedersehen können. Du wirst mit ihnen sprechen wollen, aber sie werden dich nicht hören.«
    Einige Schritte entfernt in einem Dornenstrauch sitzend, betrachtet Anne ihren Leichnam. Verstärkt durch die strahlende Helle, glänzt ihr weißes Hemd mehr denn je. Die Hitze übt ebenso wenig eine Wirkung auf sie aus wie die Stacheln, die ihre Hose durchdringen. Ihr tränennasses Gesicht ist völlig ausdruckslos.
    »Dann wirst du einen Schmerz empfinden, ähnlich dem eines Fisches, der unter glühender Sonne auf den Sand gespült wurde. Dieses Leiden hat jedoch keinen Grund mehr. Ungeachtet der tiefen Verbindung zu deinen Nächsten bist du nicht mehr mit ihnen zusammen. Löse dich und vermeide das Leiden …«
    Anne schließt die Augen und singt mit verzerrtem Mund vor sich hin.
    »Es läuft, es läuft das Frettchen des Waldes, meine Damen. Er rennt, er rennt, der Pfarrer zum Kirchlein im schönen Wald …«
    »Infolge deines Karmas wirst du übernatürliche Kräfte besitzen. Im Bruchteil einer Sekunde wirst du um die ganze Welt reisen können.«

    Eine einzelne Wolke schiebt sich vor die Sonne. Der Bauer hebt den Blick und wischt sich die Stirn ab. Zutiefst bestürzt, die Augen geschlossen, fantasiert Anne weiter, ohne die leichte Eintrübung zu sehen.
    »Er ist hier vorbeigekommen, er wird dort vorbeikommen. Er rennt, er rennt, der Pfarrer zum Kirchlein im schönen Wald, meine Damen.«
    »Dein Denken wird dich im Nu dorthin tragen, wo du zu sein wünschst. Du wirst, wann auch immer, überallhin gehen können. Doch wenn du es vermeiden kannst, diese Kräfte einzusetzen, so tu es, denn sie helfen dir nicht.«
    »Anne?«
    Jetzt höre ich schon meine eigene Stimme …
    Die Stimme wiederholt den Anruf. Diesmal ist ihr Ton befehlender und auch näher.
    »Anne!«
    Sie seufzt, wendet müde den Kopf und öffnet die Augen. Da ist niemand.
    Na bitte.
    »Diese Kräfte geben dir einfach zu verstehen, dass du im Bardo der Wiedergeburt bist. Dabei musst du vor allem eines

Weitere Kostenlose Bücher