Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
wissen: Du kannst alles, was du willst, vor dir zur Erscheinung bringen.«
Anne lässt den Blick schweifen. Zu ihrer Rechten sind beide, Tsepel und Evan, nach wie vor an ihrem Platz.
»Anne, was hast du aus deinem Leben gemacht?«
Überrascht durch die Nähe der Stimme fährt Anne herum. Auf dem Leichnam sitzt ihre Doppelgängerin. Sie trägt eine schwarze, mit weißem Fell gefütterte Robe, eine plissierte, ebenfalls weiße Krawatte sowie ein dunkles Barett mit zwei goldfarbenen Tressen - die Tracht einer Richterin.
Anne mustert die andere verdutzt. Diese fixiert sie beharrlich. Ihre Pupillen dehnen sich aus, offenbaren den in der schwarzen Tiefe liegenden gelben Fleck. Die Linse verformt sich und bündelt die Lichtstrahlen, die dann in den Glaskörper eindringen. Ganz hinten, auf der Netzhaut, prägen sie sich der Dunkelheit ein. Anne erkennt dort deutlich ihr eigenes, seitenverkehrtes Bild. Sie neigt den Kopf von links nach rechts, um ihren Blick zu lösen, vergebens. Am Grund des Auges vergrößert sich ihre Spiegelung und bildet jede Geste nach. Wie von Schwerkraft angezogen, nähert sich Anne unaufhaltsam dem Auge. Machtlos passiert sie die Hornhaut und versinkt im Kammerwasser. Der Richtung des Lichts folgend, kippt sie vornüber und durchquert die Linse. Je weiter sie sich vortastet, desto unabhängiger wird ihr Spiegelbild. Allmählich hört es auf, die Bewegungen seiner Urheberin nachzuahmen, und kommt zum Stillstand. Es wirkt sehr selbstbewusst. Anne und ihr Spiegelbild stehen sich jetzt, gleich groß, von Angesicht
zu Angesicht gegenüber. Ihm derart nah, streckt Anne die Arme aus, um den Kontakt zu verweigern, und schreit.
»Nein!«
Es hilft nichts. Sie rückt weiter vor. Ihre ausgestreckten Finger berühren das Spiegelbild, tauchen ein und verschwinden nacheinander. Dasselbe geschieht mit ihren Handflächen, Handgelenken, Unterarmen, Ellbogen, Schultern. Ihr Körper wird Zentimeter um Zentimeter eingesogen, mitgerissen, verschluckt. Sobald das letzte Haar absorbiert ist, atmet das Spiegelbild tief ein. Die Nacht, die den Raum beherrscht, zieht sich zu einer Spirale zusammen, bündelt sich dann und nähert sich dem Mund des Spiegelbilds, der sie einatmet. Ringsum breitet sich Leere aus, ein bodenloser Abgrund ohne jede Perspektive. Mit aufgeblähten Lungen atmet es schließlich aus. Seinem Mund entströmt ein lichter Glanz, der die Leere ausfüllt und das Spiegelbild selbst immer mehr verdunkelt, um es am Ende ganz einzuhüllen.
Das Zimmer ist schwach beleuchtet, der Fernseher eingeschaltet. Ein Sprecher präsentiert die Nachrichten. Der Ton ist merkwürdig. Er hallt wider, wie rückgekoppelt, eingeschlossen.
John liegt im Schlafanzug ausgestreckt auf dem Bett. Er überfliegt eine Akte, die auf seinen Knien ruht. Das Erkerfenster ist halb geöffnet. Die Vorhänge wehen leicht hin und her. Neben der Kommode öffnet sich eine Tür. Rose kommt aus dem Badezimmer, schaltet das Licht aus und schlendert zum Ehebett. Im hinteren Teil des Zimmers gegen die sandfarbene Tapete gepresst, beobachtet Anne die beiden. Rose zieht ihren Schlafrock aus, faltet ihn einmal und legt ihn sorgfältig auf einen Stuhl.
»Mama?«
Mama, ich fleh dich an, antworte mir.
Rose antwortet ihr nicht. Sie gleitet unter das Laken und zieht es bis zum Bauch hoch. Anne ruft sie erneut, lauter.
»Mama!«
Ihre Mutter dreht sich zum Nachttisch, nimmt die Fernbedienung und schaltet das Gerät aus.
Aber was mache ich hier? Wozu soll das alles gut sein?
»Mama, ich brauche dich!«
Rose schaltet ihre Nachttischlampe aus und lässt den Kopf ins Kissen sinken.
»John, machst du bitte dein Licht aus.«
»Ich lese noch diesen Bericht zu Ende. Ich muss ihn morgen früh dem Konsul geben. Es dauert nicht mehr sehr lange. Hast du nach Lucie geschaut?«
»Ja. Sie schläft wie ein Engel.«
Anne geht zum Bett und setzt sich auf die Kante neben ihre Mutter. Rose gähnt und schließt die Augen.
Was habe ich hier eigentlich zu tun?
Anne untersucht das Zimmer genauer. Der Spiegel der Kommode erregt ihre Aufmerksamkeit. Er spiegelt nicht den Raum, sondern strahlt ein seltsames Licht aus, als würde er von innen beleuchtet. Verwundert steht Anne auf und nähert sich ihm. Als sie davorsteht, starrt ihr Spiegelbild, umgeben von einem blendenden Lichthof, sie ruhig an. Es trägt die schwarze Robe der Richterin. Anne senkt den Kopf und betrachtet prüfend ihre Jeans und ihr weißes Hemd, ohne zu verstehen.
»Denkst du nicht, dass es jetzt an
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