Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Projektionen auch immer jetzt auftauchen mögen, folge ihnen nicht.«
Anne hört ihm weinend zu.
»Lass dich nicht von deinen Projektionen in Bann schlagen. Falls du ihnen nachgibst, drohst du dich zu verlieren, was deinen Schmerz nur noch vergrößern wird.«
Anne richtet den Blick auf die Pinie. Evan ist verschwunden. Sie schaut sich um. Einige Meter hinter dem Baum versucht er, an Wurzeln gekrallt, den Steilhang zu erklimmen. Sofort springt sie auf und läuft los, um ihn daran zu hindern.
»Evan, warte!«
Er hält plötzlich inne und dreht sich um, schweißgebadet. Der alte Mann hat ihn gesehen, wendet aber die Augen ab.
Am Feuer stößt Tsepel einen Seufzer aus. Er hat beschlossen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Evan soll allein zurechtkommen. Niemand kann an seiner Stelle die Trauerarbeit leisten, und solange er sich weigert, das Geschehene zu akzeptieren, wird er scheitern. Wie schwer es doch ist, zuzuhören, wenn man der Illusion anhängt, die Dinge zu meistern, wenn Wissen und Überzeugung zur Last werden. Doch wie ihm das erklären?
Zum ersten Mal stellt Tsepel sich selbst infrage: Evan versteht weder seine Sprache noch seine Gesten und Absichten. Die Leute im Abendland haben ihre Götter, ihre Glaubensvorstellungen, ihre Rituale. Mit welchem Recht könnte er ihnen die seinen aufzwingen? Sollte er sich damit zufriedengeben, den Notdienst zu verständigen, und die beiden in Ruhe lassen? Rechtfertigt das Mitgefühl, dass man den anderen vorschreibt, was einem richtig erscheint? Oder ist es vielleicht das Schuldgefühl, das ihn zurückhält, jene vage Empfindung, die moralische Pflicht und Verantwortung miteinander vermischt? Egoistisch, wer ist hier eigentlich egoistisch? Tsepel hat aufgehört zu beten.
Evan wird bewusst, wie steil und wie hoch der Abhang ist, der vor ihm liegt.
»Evan, gib’s auf. Mit deinem Bein kannst du nirgends hin.«
Anne lässt sich neben ihn fallen.
»Los, komm wieder runter.«
Evan betrachtet erneut den alten Mann dort unten neben seiner Frau. Der Tibeter wirkt niedergeschlagen. Soll er ihn tatsächlich alleinlassen? Auch Evan macht sich Gedanken über den Sinn seines Handelns. Wohin soll er gehen? Und warum? All das hat keinen Sinn. Wenn er sich absetzt, lässt er Anne im Stich, anstatt bei ihr zu bleiben und sie so gut wie möglich zu betreuen. Unversehens fällt ihm die Pascal’sche Wette ein. Er sagt sich: Wenn Tsepel recht hat, kann er, Evan, alles gewinnen, indem er sie begleitet. Und wenn Tsepel unrecht hat, gibt es für ihn nichts zu verlieren. Auf jeden Fall ist Anne tot.
»Du hast recht, Evan. Lass mich nicht allein. Ich brauche dich noch.«
Anne hat alles vernommen, wobei ihr die Wahrnehmung der Gedanken Evans ganz natürlich erscheint, wie zu ihren Lebzeiten, als sie die Überlegungen der ihr nächsten Menschen zu erfassen glaubte.
Evan gibt sein Vorhaben auf.
»Mach dir keine Sorgen, Evan, am Ende wird sich alles regeln.«
Anne streicht ihm zärtlich über die Haare. Ihre Hand verschwindet im zerzausten Schopf.
»Denkst du nicht, dass es jetzt an der Zeit wäre, Bilanz zu ziehen?«
Anne fährt herum, will herausfinden, woher die Stimme kommt. Abgesehen von dem alten Mann neben dem Leichnam ist der Ort verlassen. Sie runzelt beunruhigt die Stirn. Auf ihrem Kopf ein dunkles Barett mit zwei goldfarbenen Tressen. Anstelle ihres Hemds eine Robe, so schwarz wie Ebenholz, und eine Krawatte, so weiß wie Elfenbein. Anne hat nichts bemerkt. Die Frau des Gesetzes, das ist sie selbst.
Herzrhythmus, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffwert: einige Linien verlaufen in Wellen, andere im Zickzack. Zahlen blinken auf den Bildschirmen, senden akustische Signale aus. Im völlig weißen Saal eilt das völlig blau gekleidete Personal aufgeregt hin und her. Beleuchtet von der Operationslampe liegt der milchige Körper eines Säuglings auf einem türkisen Tuch. An seinem Brustkorb sind zwei Elektroden befestigt. Die Assistenten treten zur Seite. Der Stromstoß erfolgt. Der kleine Organismus versteift sich und springt vom Tisch hoch, der Nervenimpuls. Die blonden Haare des Babys sind zu blutbeschmierten Büscheln verklebt. Seine zarten Lider flackern. Das Gesicht deformiert von Hämatomen,
erwacht Lucie, kaum wiederzuerkennen, zu neuem Leben.
Die Stirn an das große Glasfenster der Intensivstation gepresst, stampft Anne weinend mit den Füßen und trommelt mit beiden Fäusten unablässig gegen die Scheibe. Auch ihr Gesicht ist mit Blut befleckt.
Vom Ende des
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