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Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod

Titel: Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Portier
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der Zeit wäre, Bilanz zu ziehen?«
    Anne fährt zusammen. Soeben hat ihr Spiegelbild zu ihr gesprochen. Im Zimmer ertönt das Presto der Violinsonate von Bach. Anne hält sich die Ohren zu und schreit auf.
    »Lasst mich in Frieden!«

    In das Getöse der Sonate mischt sich ein markerschütterndes Knattern. Die Hände auf die Ohren gepresst,
dreht Anne sich immer wieder um, verzweifelt bemüht, sich in der Zeit und im Raum zurechtzufinden.
    O nein!
    Plötzlich ist Anne auf dem Gebirgspfad, genau an der Stelle, wo sie hinab gestürzt ist. Verdutzt blickt sie auf eine bernsteinfarbene Staubwolke, die zum Himmel steigt. Einige Serpentinen weiter nähert sich die Enfield Bullet in hohem Tempo.
    Anne sitzt hinten auf dem Motorrad, verträumt den Kopf an Evans Schulter gelehnt. Konzentriert entziffert er die Fallen auf dem Pfad vor ihm. Anne richtet sich auf. Der gesunde Menschenverstand übermittelt ihr einen Geistesblitz.
    Wir dürfen hier nicht weiterfahren.
    Anne will die Hand heben, um Evan auf die Schulter zu tippen, aber es gelingt ihr nicht. Ihre Glieder reagieren nicht. Sie versucht zu sprechen, aber die Wörter bleiben ihr im Hals stecken. Sie bricht in Schluchzen aus, doch nichts davon zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, keine Falte, keine Träne. Sie spürt das Kribbeln in den Beinen, die Stöße ihres Kopfes, der von Evans Schulter abprallt. Sie spürt den frischen Wind auf der Haut, nimmt den Geruch der Vegetation und das blendende Licht der Sonne wahr, aber sie kann sich weder bewegen noch sprechen. Sie ist eingeschlossen in einen Körper, der nun der unveränderlichen
Vergangenheit angehört. Sie weint innerlich. Evan kann es nicht sehen.
    Warum, warum diese Qualen? Warum hört das alles nicht auf?
    Infolge der Geschwindigkeit verwandelt sich die Landschaft vor ihren Augen. Farben und Formen verschmelzen zu abstrakten wogenden Borten, die bunt schillern.
    Wenige Hundert Meter weiter verschwindet das Motorrad in einer Kurve. Anne ist am Unfallort wieder aufgestanden. In die hin und her wogende Musik der Violinen mischt sich ein lautes und regelmäßiges Knirschen. Man könnte meinen, jemand ginge über Kies. Das Geräusch der Schritte kommt von hinten. Anne dreht sich um. Eingehüllt in den Lärm, schlendert Tsepel ruhig und gelassen den Weg entlang. Anne dreht sich wieder nach vorn. Das Motorrad kommt aus der Kurve. Sie beginnt zu schreien.
    »Stopp! Bleib stehen! Evan, halt an!«
    Sie weiß, dass er sie nicht sieht, dass er sie nicht hört. Trotzdem kann sie nicht umhin, ihn mit wilden und verzweifelten Gesten auf die Gefahr hinzuweisen. Wie von ihr erwartet, hilft es nichts. Das Motorrad fährt weiter und biegt in die letzte Haarnadelkurve ein.
    Man darf nicht aufgeben, man darf nicht aufgeben.
    Anne macht kehrt und eilt zu dem alten Mann.

    »Los! Gehen Sie schnell dorthin!«
    Sie will ihn seitlich anschieben, aber ihre Hände und dann ihr ganzer Körper durchdringen ihn.
    Das Motorrad schießt aus der Kurve. Gleißendes Sonnenlicht spiegelt sich auf dem Chrom des Scheinwerfers. Evan steht von seinem Sitz auf und versteift sich. Sein Fuß drückt kraftvoll auf das Bremspedal. Die Räder blockieren. Die Steine fliegen davon.

    Entsetzt schreit Anne auf. Von der Sonne geblendet, sitzt sie neben ihrem leblosen Körper. Die Sonate von Bach erklingt weiter, durchschneidet den Raum mit heftigen Stakkatos. Plötzlich taucht der alte Mann auf, beugt sich über sie und murmelt unverständliche Worte. Die Musik endet abrupt. In Panik weicht Anne zurück und tritt ihm mit den Füßen gegen die Unterarme.
    Dann, wie im Zeitraffer, packt der Tibeter ihren Gefährten unter den Achselhöhlen, hebt ihn hoch und schleift ihn so schnell wie möglich vom Leichnam weg. Evan wehrt sich.
    »Lassen Sie mich los!«
    Erstarrt wohnt Anne der Szene bei. Tsepel setzt ihn unter dem Baum ab und hebt zum ersten Mal die Stimme.

    »Lass deine Frau in Ruhe! Sie ist tot! Damit musst du dich abfinden. Und wenn du das nicht kannst, dann hör wenigstens auf, sie in egoistischer Manier leiden zu lassen.«
    In Gedanken wiederholt Tsepel mehrmals das Adjektiv »egoistisch«, während er mit gebieterischem Schritt zum Leichnam geht. Er schlägt den oberen Teil des Schlafsacks über Annes Gesicht, setzt sich wieder vor das Feuer und fährt fort zu beten. Seine Stimme zittert. Der rechte Fuß, dessen Sohle im Lotussitz am Oberschenkel anliegt, bewegt sich aufgeregt. Tsepel hat seinen Gleichmut verloren.
    »Junge Frau, höre aufmerksam zu! Welche

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