Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
Flurs eilt Henry herbei. Er hinkt. Ein Heftpflaster bedeckt seinen linken Augenbrauenbogen, und er trägt einen Arm in der Schlinge. Als er Anne sieht, stoppt er plötzlich. Etwa zehn Meter von ihr entfernt wartet er unbewegt. Anne dreht den Kopf und starrt ihn eisig an. Henry hält ihrem Blick stand, ohne sich zu rühren. Sie wendet die Augen brüsk ab. Im Innern der Intensivstation finden Lucies Herzschläge allmählich zu einer normalen Frequenz zurück. Henry beginnt wieder zu humpeln. Anne ignoriert ihn, will ihn nicht sehen. Schniefend beißt sie die Zähne zusammen und schluckt den Nasenschleim hinunter. Vor dem Glasfenster bleibt Henry stehen. Sie verharren Seite an Seite, die Blicke auf Lucie gerichtet. Die Spannung, die sie verbindet, ist deutlich spürbar. Henry versucht einen Kontakt herzustellen.
»Wie geht es ihr?«
Anne dreht sich ihm langsam zu, die Augen finster vor Hass. Henry schüttelt flehentlich den Kopf.
»Es tut mir leid, das habe ich nicht gewollt.«
Anne hebt drohend die Hand zum unsichtbaren Himmel.
Die Glut leuchtet auf, bald rot vor Hitze, bald grau vor Erschöpfung. Mühsam bricht der Tag an. Der alte Mann sitzt vor dem Feuer und betet.
»Wie in einem Traum wirst du weder deine Reisen noch deine Begegnungen unter Kontrolle haben. Dein Geist wird hin und her getrieben wie eine Feder im Wind …«
Auf der anderen Seite des Feuers liegt Anne zusammengekrümmt auf ihrem Leichnam, die Arme um den Kopf geschlungen, um sich zu schützen.
»Der Tod wird dich über dein Leben befragen. Er wird dir große Angst machen, und du wirst ihn anlügen, indem du vorgibst, nichts Böses getan zu haben. Dann wird er dir direkt in die Augen schauen, und gleich einem Spiegel werden deine Augen dein ganzes Leben reflektieren.«
Tsepel facht das Feuer an. Sein Tonfall wechselt, wird höher und sanfter. Ein Funkenschwarm steigt auf und verdeckt Anne.
»All deine tugendhaften Handlungen werden zum Vorschein kommen, aber auch deine Verfehlungen.«
Die Klangfarbe von Tsepels Stimme nähert sich der von Anne. Der Ton hallt wider, wie eingeschlossen in einem Rohr. Die letzten glimmenden Teilchen verflüchtigen sich im Dunkel. Hinter dem Feuer taucht Anne wieder auf. Sie trägt die Robe der Richterin.
»Dann wird er dich an einem dir um den Hals gebundenen Seil ziehen. Er wird dich enthaupten, deine inneren Organe entfernen, dein Herz herausnehmen, von deinem Blut trinken, dein Gehirn aussaugen und dein Fleisch bis zu den Knochen abnagen.«
Anne erhebt sich plötzlich und bewegt den Kopf in alle Richtungen, um herauszufinden, woher die Stimme kommt. Ihre Tracht ist verschwunden. Tsepel betet ruhig und gelassen vor dem Feuer. Seine Stimme hat wieder den normalen Klang angenommen.
»Hab keine Angst vor den Strafen, die er dir auferlegt. Du bist schon tot und kannst nicht mehr sterben, selbst wenn du in tausend Stücke zerschnitten wirst. Du bist die Leere. Alles, was du siehst, ist von Natur aus ebenfalls leer. Und die Leere kann dem Leeren nicht wehtun.«
Anne betrachtet aufmerksam den alten Mann. Sie hört ihm zu.
»Es handelt sich nur um Projektionen, hervorgegangen aus deiner eigenen Verwirrung.«
Die Fliesen sind feucht. Gelbe Narzissen säumen die Auffahrt. Anne und Henry stehen wartend auf der Freitreppe vor dem Haus. Die Unterschiede hinsichtlich ihres Alters und ihrer Charaktere sind offenkundig. Anne, in fröhlicher Stimmung, die Haare zerzaust, trägt knallrote Stiefel, eine in den sieben Regenbogenfarben gestreifte Strumpfhose und einen großen, bunt verzierten Regenmantel aus Kunststoff. Durch die Wölbung des schwangeren Bauches nach oben gezogen, reichen ihr die vorderen Mantelschöße bis zur Mitte der Oberschenkel. Henry wiederum ist kerzengerade, wie eine Eins. Seine grau melierten Haare sind sorgfältig frisiert. Er ist mit einem dreiteiligen, anthrazitfarbenen, perfekt geschnittenen Anzug bekleidet, der ihm ein makelloses und äußerst strenges Aussehen verleiht. Seine Hände umklammern fest die Krücken, die ihn stützen. Er ist angespannt. Rose öffnet lächelnd die Tür. Auch sie hat sich herausgeputzt. Anne stellt Henry ihrer Mutter vor, die ihn respektvoll begrüßt. Sie bittet die beiden einzutreten. Alle drei gehen ins Haus. John erscheint in der Eingangshalle und breitet die Arme aus. Die Tür fällt ins Schloss.
Die Villa aus Glas und Stahl ist nagelneu. Im oberen Stockwerk teilen sich zwei hohe Stoffbahnen aus hellbeigem Leinen vor der imposanten
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