Barins Dreieck
Rejmus an der Hand hielt, während wir über den Schulhof gingen. Es war ein klarer Tag mit hohem Himmel und glühenden Herbstfarben. Rejmus zog einen Fuß hinter dem anderen her und trat das Laub zur Seite, das die Ahornbäume und Ulmen abgeworfen hatten. Ich glaube, er sprach sogar vom Tod, aber ich ging auf seine düsteren Betrachtungen nicht ein, stattdessen geleitete ich ihn frisch und munter die Treppe zur Hausmeisterwohnung hinauf, und unverzagt klopfte ich dreimal an die grüne Tür.
»Herein!«, tönte Wülldorff. Es war seiner Stimme anzuhören, dass man sich wohl gleich auf den Rohrstock einstellen konnte.
Wir traten ein und schlossen die Tür hinter uns. Ein Dunst aus saurem Tabakrauch und altem Schweiß stand im Raum. Wülldorff saß hinter seinem großen Arbeitstisch und arbeitete an einem Stuhl. Schmutzig, rotwangig und riesig war er, und er blinzelte uns über den Rand seiner Halbbrille hinweg an. Die Pfeife hing ihm im Mundwinkel, und ich war der Meinung, noch nie in meinem Leben etwas Schrecklicheres gesehen zu haben. Ich spürte, wie Rejmus’ Hand in meiner zitterte.
»Nun?«, knurrte Wülldorff.
»Einer von uns hat eine Scheibe zerschlagen«, sagte ich, immer noch unverzagt, und ich freute mich, dass meine raffinierte Formulierung ihn offensichtlich ein wenig aus der Fassung brachte.
»Einer von euch?«, dröhnte er. »Und wer zum Teufel hat es nun gemacht?«
Er schob sich halbwegs über den Tisch. Blieb so stehen, seinen schweren, stinkenden Oberkörper zu uns gebeugt, und ich erinnere mich noch, wie mein Herz sich über meinen Plan freute.
»Na, das war wohl ich«, sagte ich.
Rejmus zog die Hand weg, und ich spürte, wie er mich von der Seite aus anstarrte.
»Das glaube ich gern«, sagte Wülldorff und packte mich beim Arm. »Leg dich auf den Tisch!«
Ich brauchte nicht selbst hinaufzuklettern. Er packte mich unter den Armen und hob mich einfach hoch, legte mich zurecht, ohne sich um die vielen Dinge zu kümmern, die auf dem Tisch lagen und jetzt an verschiedenen Stellen in meinen Körper drückten und schnitten. Dann zog er mich zurecht, dass Kopf und Arme über den Rand hingen. Er schnappte sich seinen Rohrstock, ließ ihn ein paar Mal probeweise durch die Luft sausen und bereitete sich vor loszulegen ...
»Stopp!«, rief ich in dem Moment aus, als er den Arm zum ersten Schlag hob.
»Was zum Teufel willst du?«
Ich drehte mich zur Seite und schaute ihm direkt in die Augen. Spielte meine Trumpfkarte aus.
»Ich war es nicht«, sagte ich. »Ich habe nur Spaß gemacht. Er war es!«
Ich zeigte auf Rejmus, der sich zitternd an die Wand presste.
Wülldorff ließ die Pfeife fallen.
»Verdammt noch mal, was ...?«
Ich setzte mich auf. Mein Plan hatte funktioniert. Der Riese war offensichtlich konsterniert, ein Wort, das ich im Gemeindeblatt gelesen hatte. Im Glanze meiner Unschuld gestattete ich mir, übermütig zu gähnen, mich im Nacken zu kratzen und auf den Boden zu springen. Ich schaute Rejmus an, nickte ihm aufmunternd zu.
Aber dann traf das ein, was meinen Kinderglauben zerstörte. Vielleicht ahnen Sie es schon.
Rejmus bekam fünfzehn Schläge für das Fenster.
Ich bekam ebenso viele dafür, dass ich so dumm gewesen war, etwas auf mich zu nehmen, was ich gar nicht getan hatte.
Bei jedem Hieb war es, als dränge das Böse ein kleines Stück tiefer ein, sowohl in die Welt als auch in meine zehnjährige Seele, und ich wusste, dass ich von diesem Moment an nicht mehr der Gleiche sein würde.
Dinge würden sich von anderen Seiten zeigen, als ich es gewohnt war, und ich begriff, dass mir endlich die Augen geöffnet worden waren.
Ich war zehn Jahre alt, und es war natürlich höchste Zeit, dass ich meine Unschuld verlor.
Während ich von der Polizei abgeführt wurde, musste ich an Wülldorff denken. Es war nicht das erste Mal, dass ich seiner voller Dankbarkeit gedachte. Zwar war es so, dass ich einem Missverständnis zum Opfer gefallen war ... zwar war ich erneut fälschlich angeklagt, aber welchen Grund hatte ich, irgendein Vertrauen zu verspüren? Welche Argumente gab es, die dafür sprachen, dass die Dinge wirklich aufgeklärt wurden?
Keine.
Die Welt, das hatte ich gelernt, sowohl von Wülldorff als auch von anderen, ist eine verdammt gutgläubige Geschichte, und die einzigen, die einigermaßen die Chance haben, zurecht zu kommen, dass sind die, die sich auf das Schlimmste gefasst machen.
Wenn Sie einmal überlegen, dann bin ich mir sicher, dass Sie mir
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