Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
Die Hauptstadt heißt Baku, glaube ich.«
»Ba-Kuh?«
»Ja. Schlag in deinem Atlas nach. Wofür musst du das wissen?«
»Mr Purcell hat gesagt, ich muss diese Woche den Nahen Osten lernen, alle Länder und das ganze Zeug.«
»Guck nicht so traurig aus der Wäsche, der Toast ist fertig. Na ja, dieses ›ganze Zeug‹ ist schon wichtig. Man braucht eine Menge Hintergrundinformationen, bevor man sich interessanteren Dingen zuwenden kann.«
»Aber es ist so langweilig.«
»Das findest du. Ich war schon mal in Aserbeidschan. Baku ist ein ziemliches Kaff, aber es ist ein wichtiges Zentrum der Afrit-Forschung.«
»Was ist denn ein Afrit?«
»Afriten sind Feuerdämonen, die zweitmächtigste Kategorie von Geistern. In den Bergen von Aserbeidschan ist das feurige Element sehr ausgeprägt. Dort ist auch der zoroastrische Glaube entstanden. Seine Anhänger verehren das göttliche Feuer, das allen Lebewesen innewohnt. Wenn du die Schokocreme suchst, die steht hinter der Cornflakes-Packung.«
»Haben Sie einen Dschinn gesehen, als Sie dort waren, Mrs Underwood?«
»Um einem Dschinn zu begegnen, braucht man nicht nach Baku zu fahren, Nathanael, und sprich bitte nicht mit vollem Mund, du spuckst lauter Krümel auf das Tischtuch. Nein, Dschinn kommen zu einem, besonders hier in London.«
»Wann kriege ich so einen… Dingsda zu sehen?«
»Einen Afriten. Das ist noch lange hin, jedenfalls hoffe ich das für dich. Aber jetzt beeil dich – Mr Purcell wartet bestimmt schon.«
Nach dem Frühstück schnappte sich Nathanael seine Bücher und ging in das Schulzimmer im ersten Stock hinauf, wo Mr Purcell tatsächlich bereits auf ihn wartete. Der Lehrer war ein junger Mann mit schütterem blondem Haar, das er immer wieder in dem vergeblichen Versuch, seine Kopfhaut zu bedecken, glatt strich. Er trug einen grauen, etwas zu weiten Anzug, dazu im Wechsel eine Kollektion scheußlicher Krawatten. Mit Vornamen hieß er Walter. Er wurde schnell nervös, und wenn er mit Mr Underwood sprach (was sich gelegentlich nicht umgehen ließ), wurde er richtiggehend hibbelig. Sein schwaches Nervenkostüm ließ er wiederum an Nathanael aus. Er war zwar zu anständig, um richtig gemein zu dem Jungen zu sein, zumal der gewissenhaft arbeitete, aber er stürzte sich gereizt auf den kleinsten Fehler und kläffte seinen Schüler an wie ein kleiner Hund.
Zaubern lernte Nathanael nicht bei Mr Purcell, davon verstand der Lehrer nichts. Stattdessen widmete er sich unter seiner Anleitung einer Reihe anderer Fächer, vor allem Mathematik, neuere Sprachen (Französisch und Tschechisch), Geschichte und Erdkunde. Auch Politik war einer seiner Schwerpunkte.
»Nun, Underwood«, pflegte ihn Mr Purcell aufzufordern, »was ist die Hauptaufgabe unserer hochverehrten Regierung?« Nathanael blickte ihn verständnislos an. »Wird’s bald!«
»Das Land zu regieren, Sir?«
»Das Land zu schützen. Vergiss nicht, wir haben Krieg. Prag beherrscht immer noch die Ebenen östlich von Böhmen, und wir können nur mit Mühe verhindern, dass die Tschechoslowakei auch noch Italien besetzt. Wir leben in unruhigen Zeiten. In London wimmelt es von Spionen und Aufwieglern. Wenn wir das Empire zusammenhalten wollen, brauchen wir eine starke Regierung, will sagen, wir brauchen Zauberer. Stell dir mal vor, wie unser Land ohne Zauberer aussähe! Nicht auszudenken, wenn die Gewöhnlichen das Sagen hätten! Wir würden im Chaos versinken und wären einer Invasion wehrlos ausgeliefert. Nur unsere Anführer stehen zwischen uns und der totalen Anarchie. Halte dir das immer vor Augen, Junge: Dein Ziel ist es, ein rechtschaffenes Mitglied der Regierung zu werden. Vergiss das nicht!«
»Nein, Sir.«
»Rechtschaffenheit ist für einen Zauberer das Allerwichtigste«, fuhr Mr Purcell fort. »Er oder sie hat große Macht und muss sie mit Fingerspitzengefühl einsetzen. In der Vergangenheit ist es immer wieder vorgekommen, dass schurkische Zauberer versucht haben, die Regierung zu stürzen, doch sie sind jedes Mal gescheitert. Und warum? Weil ein richtiger Zauberer offen und ehrlich kämpft.«
»Sind Sie ein Zauberer, Mr Purcell?« Der Lehrer strich sich seufzend übers Haar. »Nein, ich war nicht… unter den Auserwählten. Aber ich tue trotzdem mein Bestes. Und jetzt…«
»Dann sind Sie also ein Gewöhnlicher?«
Mr Purcell schlug auf den Tisch. »Ich muss doch sehr bitten! Ich stelle hier die Fragen! Hol deinen Winkelmesser heraus. Wir machen mit Geometrie weiter.«
Kurz nach seinem achten
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