Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
georgianischen Reihenhaus in Highgate.
Mr Underwood hatte noch nie einen Lehrling gehabt, und er legte auch keinen Wert darauf, einen zu haben. Er arbeitete am liebsten allein. Aber ihm war klar, dass er wie jeder Zauberer früher oder später an die Reihe kommen würde und ein Kind in seinen Haushalt aufnehmen musste.
Und so geschah das Unausweichliche: Eines Tages traf ein Schreiben vom Arbeitsministerium mit der befürchteten Aufforderung ein. Mit grimmiger Resignation kam Mr Underwood seiner Pflicht nach und machte sich am Nachmittag des genannten Tages zum Ministerium auf, um seinen namenlosen Schützling in Empfang zu nehmen.
Er stieg die Marmortreppe zwischen den Granitsäulen hinauf und betrat das Foyer, einen riesigen, abweisenden Raum. Beamte gingen stumm und mit respektvoll tappenden Schritten zwischen den Eichentüren auf beiden Seiten hin und her. Am anderen Ende der Halle standen zwei bombastische Standbilder ehemaliger Arbeitsminister und dazwischen war ein mit Aktenstapeln beladener Tisch gezwängt. Dort ging Mr Underwood hin, aber erst unmittelbar vor dem Tisch gelang es ihm, hinter dem Wall aus überquellenden Aktendeckeln das lächelnde Gesicht eines kleinen Angestellten zu erspähen.
»Guten Tag, Sir«, grüßte der junge Mann.
»Stellvertretender Minister Underwood. Ich soll heute meinen neuen Lehrling abholen.«
»Ach ja, richtig. Ich habe Sie schon erwartet, Sir. Wenn Sie bitte diese Formulare hier unterschreiben wollen…« Er wühlte in einem Stapel. »Ist gleich erledigt. Dann können Sie ihn im Aufenthaltsraum abholen.«
»Ihn? Das heißt, es ist ein Junge?«
»Ja, ein Junge. Fünf Jahre alt. Ein gescheites Bürschchen, wenn man den Testergebnissen glauben darf. Im Moment ist er allerdings ein bisschen durcheinander…«
Der Angestellte fand die gesuchte Akte und zog einen Kugelschreiber hinter dem Ohr hervor. »Wenn Sie bitte jede Seite abzeichnen und auf der letzten unten auf der gestrichelten Linie mit vollem Namen unterschreiben wollen…«
Mr Underwood setzte mit schwungvoller Gebärde den Stift an. »Und seine Eltern… ich nehme an, sie sind weg?«
»Stimmt, Sir. Konnten gar nicht schnell genug verschwinden. Die Sorte kenn ich, Sir, wenn Sie mich fragen, geht’s denen nur ums Geld. Sie haben sich nicht mal richtig von ihm verabschiedet.«
»Und die üblichen Sicherheitsmaßnahmen…?«
»Seine Geburtsurkunde wurde aus dem Archiv entfernt und vernichtet, Sir, und man hat ihm eingeschärft, seinen Geburtsnamen zu vergessen und niemandem zu verraten. Er ist jetzt offiziell ein unbeschriebenes Blatt. Sie können ganz von vorn mit ihm anfangen.«
»Schön, schön.« Seufzend setzte Mr Underwood seine krakelige Unterschrift unter das letzte Formular und gab dem jungen Mann die Dokumente zurück. »Wenn das alles ist, gehe ich ihn jetzt wohl am besten holen.«
Er wanderte eine Flucht menschenleerer Flure entlang und trat durch eine schwere, getäfelte Tür in einen hell gestrichenen Raum voller Spielzeug, das dazu dienen sollte, unglückliche Kinder abzulenken. Zwischen einem grinsenden Schaukelpferd und einer Zaubererpuppe aus Plastik mit einem spitzen Hut entdeckte er einen kleinen, blassen Jungen. Offenbar hatte er bis gerade eben noch geweint, sich aber zum Glück wieder beruhigt. Ein gerötetes Augenpaar blickte Mr Underwood unverwandt an. Der Zauberer räusperte sich.
»Ich bin Underwood, dein Meister. Heute beginnt dein richtiges Leben. Komm mit.«
Der Junge zog geräuschvoll die Nase hoch. Sein Kinn zitterte verdächtig. Mit einiger Überwindung nahm ihn Mr Underwood bei der Hand, zog ihn hoch und führte ihn durch die hallenden Korridore bis zu seinem Auto.
Auf der Heimfahrt nach Highgate unternahm der Zauberer ein-oder zweimal den Versuch einer Unterhaltung, scheiterte jedoch am tränenerstickten Schweigen des Kindes. Das trug nicht gerade zu Mr Underwoods Erheiterung bei. Er schnaubte verärgert, gab es auf und stellte stattdessen das Radio an, um die neuesten Kricket-Ergebnisse zu hören. Der Junge saß stocksteif auf der Rückbank und starrte auf seine Knie.
Mrs Underwood empfing die beiden mit einem Tablett voller Kekse und einem dampfenden Becher Kakao an der Haustür und schob den Jungen sogleich in das gemütliche Wohnzimmer, wo im Kamin bereits ein Feuer brannte.
»Gib dir keine Mühe, Martha«, brummte Mr Underwood. »Er ist stumm wie ein Fisch.«
»Ist das so verwunderlich? Er hat Angst, der arme Kleine. Überlass das nur mir.«
Mrs Underwood war
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