Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
auf Französisch. Die Antworten stellten ihn fast immer zufrieden – Nathanael war ein guter Schüler.
Manchmal brachte der Meister den Jungen mittendrin mit einer Handbewegung zum Schweigen und sprach über die Probleme und Grenzen der Zauberkunst.
»Ein Zauberer«, sagte er etwa, »besitzt große Macht. Er benutzt seine Willenskraft, um Veränderungen zu bewirken. Seine Beweggründe können selbstsüchtig oder redlich und das Ergebnis kann gut oder schädlich sein, doch nur ein unfähiger Zauberer ist ein schlechter Zauberer. Wie definiert man Unfähigkeit, Junge?«
Nathanael zuckte auf seinem Kissen zusammen. »Unfähigkeit ist, wenn man die Kontrolle verliert.«
»Korrekt. Angenommen, der Zauberer behält die Kontrolle über die Kräfte, die er entfesselt, dann bleibt er… was bleibt er dann?«
Nathanael schaukelte hin und her. »Ähm…«
»Die drei Us, Junge, die drei Us. Denk nach!«
»Unangreifbar – unerkannt – unbesiegbar, Sir.«
»Korrekt. Und was ist das große Geheimnis?«
»Geister, Sir.«
»Dämonen, Junge. Nenn sie ruhig beim Namen. Was dürfen wir nie vergessen?«
»Dämonen sind überaus hinterhältig und schaden einem, wo sie nur können, Sir.« Die Stimme des Jungen schwankte.
»Gut, gut. Du hast wirklich ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Aber gib auf deine Aussprache Acht, ich glaube, du hast dich eben verhaspelt. Ein einziger Versprecher im falschen Moment kann einem Dämon genau die Gelegenheit bieten, auf die er gewartet hat.«
»Ja, Sir.«
»Dämonen sind also das große Geheimnis. Gewöhnliche Menschen wissen, dass es sie gibt und dass wir mit ihnen in Verbindung treten können. Deshalb fürchten sie uns so! Aber sie kennen nicht die ganze Wahrheit, nämlich dass unsere Macht ausschließlich von Dämonen herrührt. Ohne ihren Beistand sind wir bloß billige Taschenspieler und Scharlatane. Unsere einzige herausragende Fähigkeit besteht darin, Dämonen zu beschwören und unserem Willen zu unterwerfen. Wenn wir uns dabei an bestimmte Regeln halten, müssen sie uns gehorchen. Doch beim kleinsten Fehler fallen sie über uns her und töten uns. Wir wandeln auf einem schmalen Grat, Junge. Wie alt bist du jetzt?«
»Acht, Sir. Nächste Woche werde ich neun.«
»Neun? Sehr schön. Dann fangen wir nächste Woche richtig mit dem Zaubern an. Mr Purcell wird sich weiterhin bemühen, dir eine solide Allgemeinbildung zu vermitteln. In Zukunft treffen wir uns zweimal wöchentlich, damit ich dich in die Prinzipien unseres Standes einführen kann. Die heutige Stunde wollen wir damit beenden, dass du mir das hebräische Alphabet und die Zahlen von eins bis zwölf aufsagst. Fang an.«
Unter Anleitung seines Meisters und seiner Lehrer machte Nathanaels Ausbildung rasch Fortschritte. Es bereitete ihm Vergnügen, Mrs Underwood täglich Bericht zu erstatten und sich in ihrer Bewunderung zu sonnen. Abends betrachtete er oft durchs Fenster den fernen, hell erleuchteten Turm des Parlamentsgebäudes und träumte von dem Tag, an dem er selbst als Zauberer dort Einzug halten und ein rechtschaffenes Mitglied der Regierung werden würde.
Zwei Tage nach Nathanaels neuntem Geburtstag erschien der Zauberer eines Morgens in der Küche, wo der Junge gerade frühstückte.
»Lass das stehen und komm mit«, sagte er.
Nathanael folgte ihm durch den Korridor in das Zimmer, das seinem Meister als Bibliothek diente. Mr Underwood trat an ein langes, halbhohes Regal, in dem Bücher aller Größen und Farben standen, von schweren, in Leder gebundenen altehrwürdigen Nachschlagewerken bis hin zu abgegriffenen, vergilbten Taschenbüchern, auf deren Rücken rätselhafte Zeichen gekritzelt waren.
»Das hier ist deine Lektüre für die nächsten drei Jahre«, sagte sein Meister und klopfte auf das Regal. »Bis du zwölf bist, musst du mit allem vertraut sein, was hier drinsteht. Die Bücher sind größtenteils in Mittelenglisch, Latein, Tschechisch und Hebräisch verfasst, aber auch ein paar koptische Texte über den ägyptischen Totenkult sind darunter und ein koptisches Wörterbuch, das du zu Hilfe nehmen kannst. Du musst allein zurechtkommen, ich habe nicht die Zeit, dich ständig an die Hand zu nehmen. Mr Purcell hält dich mit den Sprachen auf Trab. Verstanden?«
»Ja, Sir. Eine Frage noch, Sir.«
»Ja, Junge?«
»Wenn ich das alles durchgelesen habe, weiß ich dann alles, was ich brauche? Ich meine, um ein guter Zauberer zu sein, Sir. Es kommt mir furchtbar viel vor.«
Mr Underwood schnaubte verächtlich.
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