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Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand

Titel: Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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Tisch lag. Darauf war ein kompliziertes Muster ineinander verschlungener Zweige, Blätter und Blumen zu sehen, in das etliche abstrakte Formen eingewoben waren. Diese Vorlage kopierte er in sein Zeichenheft. Er hatte schon zwei Stunden ohne Unterbrechung daran gearbeitet und war erst ungefähr halb fertig.
    »Es kommt mir alles so sinnlos vor«, sagte er kleinlaut.
    »Sinnlos ist es keineswegs«, erwiderte Miss Lutyens. »Lass mal sehen. Also… nicht schlecht, Nathanael, gar nicht schlecht, aber sieh mal hier… findest du nicht auch, dass dieser Bogen ein bisschen größer als im Original ist? Siehst du, was ich meine? Und in diesem Stängel hast du eine Lücke gelassen – das ist ein ziemlich schlimmer Fehler.«
    »Aber nur ein kleiner. Der Rest ist doch in Ordnung, oder?«
    »Darum geht es nicht. Wenn du ein Pentagramm abzeichnest und darin eine Lücke lässt – was passiert dann wohl? Es kostet dich das Leben. Du willst doch noch nicht sterben, Nathanael?«
    »Nein.«
    »Na also. Dann darfst du keine Fehler machen. Sonst kriegen sie dich.« Miss Lutyens lehnte sich wieder zurück. »Eigentlich müsste ich dich noch einmal ganz von vorn anfangen lassen.«
    »Miss Lutyens!«
    »Mr Underwood würde das zweifellos von mir erwarten.« Sie dachte nach. »Aber deinem Aufschrei entnehme ich, dass du es beim zweiten Anlauf wohl kaum besser hinbekommst. Lassen wir es für heute gut sein. Geh lieber raus in den Garten. Du siehst aus, als könntest du ein bisschen frische Luft vertragen.«
    Der Garten war für Nathanael ein Zufluchtsort, an dem er eine Zeit lang allein und ungestört sein konnte. Hier fand kein Unterricht statt. Hier lauerten keine unliebsamen Erinnerungen. Es war ein schmaler, lang gestreckter Garten, der von einer hohen roten Ziegelmauer umgeben war. Im Sommer rankten sich Kletterrosen daran empor und sechs Apfelbäume streuten ihre weißen Blüten über den Rasen. In der Mitte wuchsen zwei ausladende Rhododendronbüsche, und dahinter befand sich ein geschütztes Plätzchen, das weitgehend vor den vielen glotzenden Fenstern des Hauses verborgen lag. Dort wucherte hohes, feuchtes Gras. Im Nachbargarten wuchs ein großer Kastanienbaum und im Schatten der Mauer stand eine mit grünen Flechten bewachsene Steinbank. Daneben war die Marmorstatue eines Mannes mit einem Donnerkeil in der Hand aufgestellt. Er trug eine altmodische Jacke und seine gewaltigen Koteletten standen wie die Zangen eines Hirschkäfers von den Wangen ab. Die Statue war verwittert und bemoost, vermittelte aber immer noch den Eindruck großer Macht und Tatkraft. Sie übte eine starke Anziehung auf Nathanael aus, und er war sogar so weit gegangen, Mrs Underwood zu fragen, wen sie darstellte, doch sie hatte bloß gelächelt.
    »Frag deinen Meister«, hatte sie gesagt. »Der weiß alles.«
    Aber Nathanael hatte sich nicht getraut.
    Er zog sich immer dann an diesen friedlichen, abgeschiedenen Ort mit der Steinbank und der Statue des unbekannten Zauberers zurück, wenn er sich vor einer Unterrichtsstunde bei seinem lieblosen, unerbittlichen Meister sammeln musste.
    §
    Zwischen seinem sechsten und achten Lebensjahr suchte Nathanael seinen Meister nur einmal wöchentlich auf, und zwar am Freitagnachmittag. Diese Nachmittage verliefen nach einem strengen Zeremoniell. Nach dem Mittagessen musste Nathanael nach oben gehen, sich waschen und ein frisches Hemd anziehen. Dann, Punkt halb drei, stand er vor der Tür zum Zimmer seines Meisters im ersten Stock. Er klopfte dreimal, worauf ihn eine Stimme zum Eintreten aufforderte.
    Sein Meister saß zurückgelehnt in einem bequemen Korbsessel vor dem Fenster zur Straße. Sein Gesicht lag meistens im Schatten und das durch das Fenster einfallende Licht umspielte ihn wie ein Dunstschleier. Wenn Nathanael eintrat, wies eine lange, magere Hand auf die Kissen, die sich auf dem Diwan an der gegenüberliegenden Wand türmten. Nathanael nahm sich ein Kissen und legte es auf den Boden. Dann setzte er sich mit pochendem Herzen darauf, ängstlich darum bemüht, jede Veränderung in der Stimme seines Meisters mitzubekommen, damit ihm auch ja nichts entging.
    In den ersten Jahren gab sich der Zauberer für gewöhnlich damit zufrieden, den Jungen nach seinen Fortschritten zu fragen, ihn aufzufordern, ihm etwas über Vektoren, Algebra oder Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erzählen, oder ihn um ein kurzes Referat über die Geschichte Prags oder eine Aufzählung der wichtigsten Ereignisse der Kreuzzüge zu bitten, Letzteres

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